Enders - Porträt eines Marshals: Die Bonus-Story (German Edition)
Armes Starter-Mädchen, was ist dir zugestoßen?
Ich blicke auf die Tote zu meinen Füßen. Sie sollte um diese Zeit in ihren sicheren vier Wänden sein und ihre Hausaufgaben machen. Oder in einer Disco tanzen. Aber da liegt sie, auf dem kalten Beton dieser leer stehenden Tiefgarage, die nach Moder und alten Ölflecken riecht.
Die Sachen, die sie trägt – Hose, T-Shirt und ein von der Schulter gerutschtes Sweatshirt –, sind zerrissen. Starter-Klamotten eben. Wenn du häufig in Kämpfe verwickelt bist, sieht man das deiner Kleidung an. Und Starters sind ständig in Kämpfe verwickelt, weil es praktisch alle auf sie abgesehen haben. Renegaten, Ladenbesitzer, andere Starters.
Und natürlich Marshals wie ich.
Die Frage ist, welche dieser Risse bereits vorhanden waren und welche von ihrem Mörder verursacht wurden.
Ich ziehe meinen Taschen-Scanner heraus, gehe in die Hocke und fahre damit über die schadhaften Stellen. Auf dem kleinen Airscreen erscheinen Zahlen und Daten.
Der jüngste Riss ist bereits einen Monat alt. Hatte ich mir fast gedacht. Keine große Hilfe.
Und das Einschussloch in der Herzgegend bringt mich ebenfalls nicht weiter. Sauberer Treffer aus einiger Entfernung. Die einzige Auskunft, die mir der Scanner gibt, ist, dass die Tat vor zwei Stunden geschah. Der anonyme Hinweis eines Passanten kam vor zehn Minuten herein.
Eine Erinnerung blitzt auf. Ein anderes Einschussloch, ein anderes Mädchen, eine andere Zeit. Ich verdränge sie aus meinen Gedanken.
Im Moment geht es nur um dieses Starter-Mädchen. Sie dürfte um die fünfzehn sein. Wahrscheinlich seit einem Jahr auf der Straße. Die meisten Starters haben ihre Angehörigen in den Sporen-Kriegen verloren. Ich fahre mit dem Scanner über die Spitzen der gut schulterlangen braunen Haare. Letzter Schnitt vor etwa sechzig Tagen. Komisch. Woher hatte sie das Geld für einen Friseurbesuch? Vielleicht eine Art Tauschgeschäft. Oder eine Freundin, die geschickt im Umgang mit der Schere war.
Wieder ein Bild vor meinen Augen wie ein Blitz. Jenny. Blonde Haare, gut schulterlang. Zerzaust.
Ich kehre in die Gegenwart zurück, taste den Körper der Toten mit dem Scanner ab, warte auf das rote Blinken des Monitors – ein Hinweis auf etwas Ungewöhnliches. Ich schalte den Ton ein, und eine Stimme verkündet mir, was der Taststrahl einliest, als ich mit dem Gerät über ihren Bauch streiche.
»Narbe von Unfall-Trauma, fünf Jahre alt. Vermutliche Ursache: Sturz.«
Vom Bauchnabel weiter in Richtung Hüften, über die Kleidung hinweg.
»Keine Verletzungshinweise.«
Da sich nichts Außergewöhnliches zeigt, begnüge ich mich damit, die Daten zu speichern. Ich verzichte auf die Bilderfassung des Scanners und stelle ihn auf dem Boden ab, während ich mein Handy hervorhole und ein Foto von ihr mache. Dann sehe ich mir ihre Kleidung genauer an. Starters sind dafür bekannt, dass sie ihre Wertsachen in kleinen Gürteltaschen oder Brustbeuteln verstauen. Aber alles, was sie bei sich trägt, ist ihre Wasserflasche, die sie an einem Riemen über die Schulter geschlungen hat, und eine Leuchte am Handgelenk. Ich scanne Flasche und Handleuchte. Nichts. Zusätzlich überprüfe ich das breite Band der Leuchte. Manchmal verstecken sie Notizen darin.
Nichts. Irgendwo in der feuchten Tiefgarage höre ich ein leises Geräusch. Eine Maus, die sich davonmacht? Ich richte mich mit knirschenden Wirbeln auf. Ach, was gäbe ich für die Zeiten, in denen ich noch gelenkiger war!
Ich bücke mich und streife ihr die Schuhe von den Füßen.
Blaue Turnschuhe. Sie sind so winzig, kaum größer als meine Hand. Es bricht mir das Herz.
Rückblende: Ein anderes Paar Schuhe. Pink. Abgestoßen. Nur noch vereinzelte Glitzersteine. Ein Loch in der Spitze. Jennys Schuhe. Die Schuhe, die sie sich so sehnlich gewünscht hatte, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als sie ihr zu kaufen.
Ich verdränge den Schmerz. Ich muss mich konzentrieren.
Die meisten Starters besitzen so gut wie nichts. Wer war der Meinung, dass dieses Mädchen eine teure Kugel wert war?
Zuletzt zwinge ich mich, ihr Gesicht zu untersuchen. Es ist verblüffend schön. Die Haut makellos. Kein Sonnenbrand, keine Sommersprossen. Keine Spuren von Kämpfen.
Ich sehe mir ihre Hände an. Ebenfalls glatt und hell. Da die Schusswunde ganz offensichtlich die Todesursache ist, habe ich es nicht für nötig gehalten, ihr Gesicht zu scannen, aber nun befiehlt mir ein Instinkt, das nachzuholen. Ich schalte mein Gerät
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