Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
blieben.
Gegen Ende des Winters begab sich die kaiserliche Familie auf einen Schlittschuhausflug zu einem zugefrorenen See bei Zarskoje Selo. Der Zar und seine vier Töchter sowie deren Hauslehrer, Monsieur Gilliard, und Dr. Fedorow verbrachten den Nachmittag damit, beeindruckende Muster in das dicke Eis zu kerben, während die Zarin und ihr Sohn, dick eingemummt in Pelze, Handschuhe und Mützen, am sicheren Seeufer saßen und den anderen zuschauten.
»Darf ich nicht wenigstens für ein paar Minuten aufs Eis?«, bettelte der Zarewitsch bei Einbruch der Dämmerung, als klar war, dass der Spaß bald zu Ende sein würde.
»Du weißt doch, das geht nicht, mein Schatz«, erwiderte seine Mutter und strich ihm mit der Hand über sein in die Stirn hängendes Haar. »Wenn dir etwas passiert …«
»Es wird aber nichts passieren«, beharrte er. »Ich passe auf, versprochen.«
»Nein, Alexei«, sagte sie seufzend.
»Aber das ist so ungerecht«, schimpfte er, mit vor Wut glutroten Wangen. »Warum muss ich hier herumsitzen, während meine Schwestern alles dürfen, was sie wollen. Schau dir Tatjana an! Die ist schon ganz blau. Und trotzdem muss sie nicht vom Eis und sich aufwärmen, oder? Und Anastasia! Die guckt andauernd zu mir herüber. Sie möchte, dass ich mitmache.«
Ich stand im Rücken der kaiserlichen Ausflugsgesellschaft und musste schmunzeln, als ich ihn dies sagen hörte, denn ich wusste, dass Anastasia nicht zu ihrem Bruder hinüberschaute, sondern zu mir. Es war für mich nach wie vor ein Wunder, wie wir es geschafft hatten, unsere Liaison fast ein Jahr lang geheim zu halten. Das Ganze war natürlich völlig harmlos. Wir verabredeten uns zu geheimen Rendezvous, wir schrieben uns Briefchen in einem von uns ersonnenen Code, und wenn es uns beiden gelang, einmal irgendwo allein zu sein, dann hielten wir Händchen und küssten uns, wobei wir uns ewige Liebe schworen. Wir hielten uns fest umschlungen und hatten ständig Angst, jemand könnte von unserer Romanze erfahren, denn diese Entdeckung hätte zweifellos unsere sofortige Trennung bedeutet.
»Immer stellst du Forderungen, Alexei«, sagte die Zarin mit einem erschöpften Seufzer, während sie einen Zinnbecher mit heißer Schokolade aus einer Thermosflasche füllte. »Aber ich muss dich wohl nicht an die Schmerzen erinnern, die du bekommst, wenn du stürzt oder hinfällst.«
»Aber ich werde nicht hinfallen«, beharrte er durch seine zusammengebissenen Zähne. »Soll das immer so weitergehen? Darf ich nie glücklich sein?«
»Doch, Alexei, natürlich. Wenn du erwachsen bist, kannst du tun und lassen, was du willst, aber bis dahin entscheide ich, und zwar in deinem eigenen Interesse. Vertrau mir!«
»Vater«, sagte Alexei und wandte sich nun an den Zaren, der gemeinsam mit Anastasia ans Ufer des Sees geglitten war und den Streit der beiden mitbekommen hatte. Ihre Gesichter waren rosig, aber sie hatten trotz der klirrenden Kälte gelacht und sich blendend amüsiert. Anastasia lächelte mich an, und ich erwiderte ihr Lächeln kurz, wobei ich darauf achtete, dass es niemandem auffiel. »Vater, darf ich ein bisschen Schlittschuh laufen?«
»Alexei«, erwiderte der Zar und schüttelte traurig den Kopf, »wir haben uns doch schon hundertmal darüber unterhalten.«
»Aber was ist, wenn ich nicht allein aufs Eis gehe?«, schlug der Junge vor. »Wenn mich jemand beim Schlittschuhlaufen an den Händen hält und mich notfalls auffängt?«
Der Zar dachte einen Moment lang darüber nach. Im Unterschied zu seiner Frau war er sich der anderen Mitglieder unserer Ausflugsgesellschaft bewusst, der Bediensteten, der entfernten Verwandten, der Prinzen aus vornehmen Adelsfamilien, und bei Gelegenheiten wie dieser war er stets darauf bedacht, dass sein Sohn nicht als ein Schwächling wahrgenommen wurde, der es nicht riskieren konnte, an den normalsten Aktivitäten teilzunehmen. Er war schließlich der Zarewitsch. Es war wichtig, dass man ihn für stark und männlich hielt, denn nur so war sein Anspruch auf den Thron aufrechtzuerhalten. Als er die Unschlüssigkeit seines Vaters spürte, packte der Junge die Gelegenheit sofort beim Schopf.
»Nur zehn Minuten«, fuhr er fort, als Anwalt in eigener Sache. »Höchstens fünfzehn. Vielleicht zwanzig. Und ich werde ganz langsam laufen. Im Schritttempo, wenn ihr wollt.«
»Alexei, das geht nicht«, begann die Zarin, doch dann wurde sie von ihrem Gatten unterbrochen.
»Gibst du mir dein Ehrenwort, dass du nur im Schritttempo läufst
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