Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Raissa Afonowna, der das Hausgesinde des Winterpalais unterstand, hatte sich seit unserer ersten Begegnung, am Tage nach meiner Ankunft in der Hauptstadt, mir gegenüber überraschend freundlich verhalten. Da sie eine enge Vertraute der Zarin war, liefen wir uns in den Gemächern der kaiserlichen Familie hin und wieder über den Weg, und dann grüßte sie mich immer sehr herzlich und blieb stehen, um sich mit mir zu unterhalten, wozu sich viele Mitglieder ihres Standes niemals herabgelassen hätten. Und daher war sie diejenige, die ich am nächsten Morgen aufsuchte, um mich nach einer möglichen Anstellung für Asja zu erkundigen.
Sie residierte in einem relativ kleinen Büro im ersten Stock des Palastes. Ich klopfte an und wartete darauf, hereingebeten zu werden, bevor ich meinen Kopf durch die Tür steckte und sie begrüßte.
»Georgi Daniilowitsch«, sagte sie mit einem Lächeln und bedeutete mir, dass ich eintreten sollte. »Welch angenehme Überraschung.«
»Guten Morgen, Euer Gnaden«, erwiderte ich, als ich die Tür hinter mir schloss. Dann folgte ich ihrem Geheiß, neben ihr auf einem kleinen Sofa Platz zu nehmen. Ich hätte den Sessel vorgezogen, der zwei oder drei Meter davon entfernt stand, doch dieses Sitzmöbel war offenkundig für erlauchtere Besucher als mich bestimmt, und ich wollte auf gar keinen Fall die Etikette verletzen. »Ich hoffe, ich störe Euch nicht.«
»Nein, ganz und gar nicht«, sagte sie und raffte ein paar Papiere zusammen, die sie dann sorgfältig auf einem kleinen Tisch ablegte. »Ich bin für jede Abwechslung dankbar.«
Ich nickte, ein weiteres Mal davon überrascht, wie zuvorkommend sie mich behandelte, in deutlichem Gegensatz zu ihrer Freundin, der Zarin Alexandra, die keine Notiz von mir nahm.
»Wie geht es dir denn?«, fragte sie. »Hast du dich inzwischen gut eingelebt?«
»Sehr gut, Euer Gnaden«, erwiderte ich mit einem Kopfnicken. »Ich glaube, ich bin mir meiner Pflichten bewusst.«
»Und deiner Verantwortung hoffentlich auch«, sagte sie. »Denn davon hast du jede Menge. Du hast das Vertrauen des Zarewitschs gewonnen, habe ich gehört.«
»So ist es«, sagte ich, und die Erwähnung Alexeis zauberte ein inniges Lächeln auf mein Gesicht. »Er hält mich ganz schön in Trab, wenn ich das sagen darf.«
»Ja, das darfst du«, sagte sie lachend. »Ich weiß, er ist ein lebhafter Junge. Er wird einmal ein großer Zar sein, wenn alles gut geht.« Ich runzelte die Stirn, von ihren Worten überrascht, und für einen Moment schien es mir so, als schösse ihr das Blut in die Wangen. »Ein großer Zar, ganz gewiss«, korrigierte sie sich dann selbst. »Aber du musst es hier doch ziemlich seltsam finden, oder?«
»Seltsam?«, fragte ich, unsicher, wie sie das gemeint haben mochte.
»Ich meine, so weit weg von zu Hause zu sein. Von deiner Familie. Ich vermisse meinen Sohn Lew jeden Tag.«
»Er lebt also nicht in St. Petersburg?«
»Doch, eigentlich schon«, sagte sie. »Aber er ist …« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Er ist natürlich Soldat. Er kämpft für sein Land.«
»Ja«, sagte ich. Das lag nahe. Die Fürstin war nicht älter als vierzig, und somit war es wahrscheinlich, dass sie einen Sohn in der Armee hatte.
»Tatsächlich ist er nur zwei Jahre älter als du«, sagte sie. »Du erinnerst mich irgendwie an ihn.«
»Wirklich?«, fragte ich.
»Ja, ein bisschen. Ihr seid gleich groß. Habt das gleiche Haar. Und eine ähnliche Statur. Im Grunde«, fügte sie hinzu und lachte kurz, »könntet ihr Brüder sein.«
»Ihr macht Euch sicher Sorgen um ihn.«
»Hin und wieder schaffe ich es, eine ganze Nacht durchzuschlafen«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln. »Aber nicht allzu oft.«
»Entschuldigung«, sagte ich, denn ich spürte, dass sie kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. »Ich hätte dieses Thema nicht anschneiden sollen.«
»Schon gut«, sagte sie und schüttelte lächelnd den Kopf. »Manchmal habe ich Angst um ihn. Manchmal bin ich stolz auf ihn. Und manchmal bin ich wütend.«
»Wütend?«, fragte ich überrascht. »Worüber?«
Sie zögerte und schaute weg. Es sah so aus, als kämpfte sie mit sich selbst, als versuchte sie, sich daran zu hindern, das zu sagen, was sie eigentlich sagen wollte. »Über die Richtung, in die er uns führt«, sagte sie leise durch ihre zusammengebissenen Zähne. »Über den ganzen Wahnsinn. Über seine völlige militärische Inkompetenz. Wir werden alle zugrunde gehen, wenn er so weitermacht.«
»Euer
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