Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
den Winter 1916 zurückdenke, so ist dies meine deutlichste Erinnerung.
Die Großfürstin Anastasia und ich bei Sonnenuntergang allein auf dem Eis, Hand in Hand, in unserem ureigenen Rhythmus dahingleitend, während es zusehends dunkel wurde und uns ihre Eltern und Geschwister aus der Ferne zuschauten, ohne auch nur das Geringste von unserer leidenschaftlichen Romanze zu ahnen – wir beide in einem Takt tanzend, eine perfekte Verbindung von zwei Menschen, die sich wünschten, dieser Augenblick möge nie zu Ende gehen.
Und nun muss ich vom wohl schändlichsten Moment meines Lebens erzählen. Ich ertrage die Erinnerung daran nur, indem ich mir sage, dass ich damals jung war, dass ich verliebt war, nicht nur in Anastasia, sondern auch in die kaiserliche Familie, ins Winterpalais, in St. Petersburg, in jede Facette meines neuen Lebens, das sich mir so plötzlich eröffnet hatte. Ich sage mir, dass ich von Selbstsucht und Stolz erfüllt gewesen war, dass ich meine neue Existenz mit niemandem teilen wollte, dass dieser Neuanfang ganz und gar mir gehören sollte. Ich sage mir all diese Dinge, doch sie sind mir kein Trost. Es war eine unverzeihliche Sünde.
Asja erwartete mich bereits, als ich zur vereinbarten Uhrzeit an unserem Treffpunkt erschien – ich hatte sie im Verdacht, dass sie dort schon den halben Nachmittag gewartet hatte.
»Es tut mir leid«, sagte ich und sah ihr direkt in die Augen, obwohl ich sie schamlos anlog. »Es gibt keine Stelle für dich. Ich habe gefragt, aber derzeit besteht einfach kein Bedarf.«
Sie nickte und akzeptierte meine Worte, ohne zu klagen. Als sie in der Nacht verschwand, sagte ich mir, dass sie in Kaschin viel besser aufgehoben sei, wo sie Freunde und eine Familie hatte, ein Zuhause. Und dann verbannte ich sie aus meinen Gedanken, als wäre sie nichts weiter als eine entfernte Verwandte und keine Schwester, die mich liebte.
Ich habe sie nie mehr wiedergesehen und auch nie wieder etwas von ihr gehört. Ich muss mit dieser Erinnerung leben und mit der Schande.
1941
Drei Mal war ein gewisser Herr bereits von mir unbemerkt in der Bibliothek aufgetaucht, als mich Miss Simpson, die sehr von ihm angetan war, bei seinem vierten Besuch mit einem freudig erregten Gesichtsausdruck beiseitenahm.
»Er ist wieder da«, flüsterte sie, wobei sie meinen Arm umklammerte und hektisch in den Bibliothekssaal lugte, bevor sie sich wieder mir zuwandte – so aufgekratzt hatte ich sie noch nie erlebt. Ihre fiebrige Erregung glich der eines Kindes am Heiligabend kurz vor der Bescherung.
»Wer ist wieder da?«, fragte ich.
» Na, er «, sagte sie, als hätten wir uns bereits ausgiebig über den Burschen unterhalten und als stellte ich mich absichtlich begriffsstutzig. »Mr Tweed, wie ich ihn nenne. Er ist Ihnen doch sicher auch aufgefallen, oder?«
Ich starrte sie an und fragte mich, ob sie vielleicht verrückt geworden war. Der Krieg schlug uns schließlich allen aufs Gemüt. Die ständigen Luftangriffe, das Drohen von Luftangriffen, die Folgen von Luftangriffen … es war genug, um selbst die vernünftigste Seele in den Wahnsinn zu treiben. »Miss Simpson«, sagte ich, »ich habe keine Ahnung, wovon Sie da reden. Es ist jemand hier, den Sie schon einmal hier gesehen haben. Ist das richtig? Ein Störenfried oder etwas in der Art? Was um Himmels willen wollen Sie mir sagen?«
Sie packte mich und zerrte mich vom Ausgabepult weg, wo ich gearbeitet hatte, und einen Augenblick später standen wir versteckt hinter einem Bücherregal und betrachteten einen Mann, der an einem der Lesetische saß und sich auf einen dicken Wälzer konzentrierte. Es war nichts sonderlich Bemerkenswertes an ihm, einmal abgesehen von der Tatsache, dass er einen teuren Tweedanzug trug, von dem sich der Name ableitete, den Miss Simpson sich für ihn ausgedacht hatte. Vermutlich war er auch ein Frauentyp, mit dunklem, nach hinten gekämmtem, pomadisiertem Haar. Seine sonnengebräunte Haut ließ darauf schließen, dass er entweder kein Engländer war oder viel Zeit im Ausland verbrachte. Am Ungewöhnlichsten war jedoch die Tatsache, dass ein Mann seines Alters – er war ungefähr Ende zwanzig – an einem Donnerstag um zwei Uhr nachmittags in der Bibliothek des British Museum saß. Eigentlich hätte er irgendwo beim Militär sein müssen.
»Ja, und?«, fragte ich, irritiert von der unübersehbaren Begeisterung meiner jungen Kollegin. »Was ist nun mit ihm?«
»Er ist diese Woche jeden Tag hier gewesen«, sagte sie, wobei sie
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