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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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mitbekommen, wie sein Name – zusammen mit denen von Lenin und Trotzki – bei Gesprächen im Palast gefallen war, und es kam mir merkwürdig vor, dass ausgerechnet er die beiden anderen überlebt und die Macht an sich gerissen hatte. Die Herrschaft der Romanows hatte ihr Ende gefunden, weil das Volk vom Zarismus genug gehabt hatte, doch ich fand, dass sich dieses neue Sowjetregime bis auf den Namen kaum vom alten russischen Kaiserreich unterschied.
    Obwohl ich nur selten an sie dachte, fragte ich mich, wie meine Schwestern den Krieg erlebten und ob sie überhaupt noch am Leben waren. Asja musste inzwischen Mitte vierzig sein, Liska und Talya in den frühen Vierzigern. Sie waren alt genug, um Söhne zu haben – meine Neffen –, die nun wohl irgendwo an der russischen Front kämpften und ihr Leben auf dem Schlachtfeld opferten. Ich hatte mir oft einen Sohn gewünscht, und es tat mir weh, wenn ich daran dachte, dass ich nie einen dieser Jungen kennenlernen würde, dass sie nie Gelegenheit haben würden, sich mit ihrem Onkel zu einem kleinen Plausch zusammenzusetzen. Doch dies war der Preis, den ich für die Entscheidung zahlen musste, die ich 1918 getroffen hatte: die Trennung von meiner Familie, Exil auf Lebenszeit. Es war natürlich auch möglich, dass meine Schwestern nicht mehr am Leben waren, dass sie kinderlos alt geworden waren oder dass man sie während der Revolution umgebracht hatte. Wer weiß, welch fürchterliche Rache in Kaschin womöglich an ihnen vollzogen worden war, als die Nachricht von meiner Freveltat unser kleines, trostloses Dorf erreicht hatte?
    Drei Luftangriffe betrafen mich und meine Familie in besonderem Maße. Beim ersten wurde das British Museum von Bomben getroffen, ein Ort, den ich inzwischen als eine Art Zuhause betrachtete. Die Bibliothek blieb weitgehend verschont, doch Teile des Hauptgebäudes waren so stark beschädigt, dass sie bis auf Weiteres geschlossen wurden. Es bekümmerte mich, ein so herrliches Gebäude in diesem erbarmungswürdigen Zustand zu sehen.
    Beim zweiten wurde das Holborn Empire dem Erdboden gleichgemacht, das Filmtheater, das Soja und ich vor Ausbruch des Krieges so häufig besucht hatten, der Ort, den ich mit meiner Schwärmerei für Greta Garbo verband und mit dem Abend, als meine Frau und ich uns dort anlässlich einer Vorführung von Anna Karenina für zwei Stunden in Bildern und Erinnerungen verloren hatten, die uns in unsere Heimat zurückversetzten.
    Der dritte war der betrüblichste. Unsere Nachbarin, Rachel Anderson, die seit sechs Jahren neben uns gewohnt hatte und die für Soja eine Freundin und Vertraute und für Arina so etwas wie eine Großmutter gewesen war, kam in einem Haus in Brixton zu Tode, wo sie eine Freundin besucht und es nicht mehr rechtzeitig in einen Luftschutzbunker geschafft hatte. Als ihr Leichnam eine Woche später gefunden wurde, hatten wir uns angesichts ihres spurlosen Verschwindens bereits auf das Schlimmste gefasst gemacht. Wir litten alle drei sehr unter diesem Verlust, vor allem jedoch Arina, die Rachel jeden Tag ihres Lebens gesehen hatte und die bis dahin noch nicht gewusst hatte, was es bedeutete, um jemanden zu trauern.
    Im Unterschied zu ihren Eltern, die es nur zu gut wussten.
    Zuerst gab es eine Reihe von Briefen, die offenbar keine wichtigen Informationen enthielten, doch ich übersetzte sie trotzdem und suchte dabei zwischen den Zeilen nach versteckten Botschaften. Die Briefe waren alle mindestens ein Jahr alt und umfassten Einzelheiten über Truppenbewegungen, die schon längst abgeschlossen waren. Als ich mich daranmachte, die in kyrillischer Schrift abgefassten Texte ins Englische zu übertragen, war die Mehrzahl der Soldaten, die den fraglichen Truppen angehört hatten, vermutlich bereits gefallen. Ich arbeitete sehr gewissenhaft und las zunächst jedes dieser Dokumente von A bis Z durch, um mir einen Eindruck von ihrem Inhalt zu verschaffen, bevor ich damit begann, sie Satz für Satz zu entziffern. Ich schrieb in einer sauberen, ordentlichen Handschrift auf Velinpapier, das mir vom Kriegsministerium zur Verfügung gestellt wurde, und ich benutzte dabei einen schwarzen Füllfederhalter von allerbester Qualität, der bei meiner Ankunft auf dem Tisch gelegen hatte. Als ich mit der Arbeit fertig war und den Füller zurücklegte, öffnete sich beinahe im selben Augenblick die Tür, und er trat herein.
    »Der Spiegel«, sagte ich und nickte in Richtung der langen Glasscheibe, die in eine der Wände eingelassen war.

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