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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Mal jemand begegnet war, der sich dermaßen unter Kontrolle hatte – ein junger Mann, der nie schwitzte, der nie die Fassung verlor, der nie etwas sagte, bei dem er sich nicht vollkommen sicher war, dass er es auch sagen wollte.
    »Sie haben Russland nur besucht«, sagte ich schließlich, denn ich hatte den Eindruck, er würde erst dann wieder etwas sagen, wenn ich den Anfang machte.
    »Das stimmt.«
    »Sie haben dort nie gelebt?«
    »Richtig.«
    »Aber Sie glauben, Ihr Russisch sei besser als meins.«
    »Ja.«
    Angesichts seines selbstsicheren Tonfalls musste ich kurz lachen. »Darf ich fragen, warum Sie das glauben?«
    »Weil es mein Job ist, besser Russisch zu können als Sie.«
    »Ihr Job?«
    »Ja.«
    »Und was genau ist Ihr Job, Mr Jones?«
    »Besser Russisch zu können als Sie.«
    Ich seufzte und schaute weg. Diese Unterhaltung war vollkommen sinnlos. Es konnte nicht anders sein. Er würde mir nichts sagen, was er nicht sagen wollte. Es wäre einfacher, wenn ich meinen Mund hielt und darauf wartete, dass er stattdessen zu reden begann. Das Resultat wäre in jedem Fall das gleiche gewesen.
    »Aber wie dem auch sei«, fügte er hinzu, wobei er die Briefe noch einmal hochhielt, um sie dann auf die Tischplatte zu werfen, »Ihr Russisch ist ausgezeichnet. Ich werde Sie als geeignet empfehlen. Es ist ja auch nicht so, dass Sie in den letzten zwanzig Jahren niemanden hatten, mit dem Sie Russisch sprechen konnten, oder?«
    »Mit wem denn?«
    »Na, mit Ihrer Frau natürlich«, sagte er achselzuckend. »Aber zu Hause sprechen Sie kein Russisch. Und erst recht nicht, wenn Ihre Tochter dabei ist.«
    »Woher wissen Sie, was ich zu Hause spreche?«, fragte ich ihn, denn allmählich begann ich mich über ihn zu ärgern. Ich war wütend, weil er so viel über mich zu wissen schien. Ich hatte zwanzig Jahre lang versucht, die Privatsphäre meiner Familie zu schützen, und nun saß dieser Bengel hier neben mir und erzählte mir lauter Sachen, die er eigentlich nicht wissen durfte. Ich hätte zu gern gewusst, wie er das alles herausgefunden hatte. Und ich hätte gern erfahren, was er sonst noch über mich wusste.
    »Stimmt doch, oder?«, fragte er, nun in einem versöhnlicheren Tonfall, so als habe er meine Verärgerung gespürt.
    »Das wissen Sie doch ganz genau.«
    »Und warum tun Sie das, Mr Jatschmenew? Warum sprechen Sie in Arinas Gegenwart nie Ihre Muttersprache? Wollen Sie, dass Ihre Tochter nichts über ihre Herkunft erfährt?«
    »Los, erzählen Sie’s mir«, sagte ich. »Sie scheinen ja alles über mich zu wissen.«
    Daraufhin erlaubte er sich ein Lächeln, und wir saßen eine Weile da, ohne dass er etwas erwiderte. Er schüttelte einfach den Kopf, und dann nickte er.
    »Wirklich ausgezeichnet«, wiederholte er und tippte dabei mit dem Zeigefinger auf das Bündel Briefe. »Ich wusste, ich habe den Richtigen gefunden. Aber nächstes Mal werden wir Sie mit etwas anspruchsvolleren Aufgaben betrauen.«
    Für jemanden mit russischer Herkunft war das Leben in London während des Krieges kein Zuckerschlecken. Es gab viele Abende, an denen Soja mir berichtete, wie sie tagsüber beim Lebensmittelhändler oder beim Schlachter, wo sie schon seit Jahren eingekauft hatte, argwöhnisch beäugt worden war, als sie ihr Begehr mit einem unüberhörbaren ausländischen Akzent vorgebracht hatte – oder dass die Portionen des rationierten Fleisches, die man ihr über den Tresen reichte, immer etwas kleiner waren als die der englischen Frauen, egal ob diese in der Schlange vor oder hinter ihr gestanden hatten, oder dass die ihr verkaufte Milch oder Brot immer schon etwas älter waren. Das gute Einvernehmen, das Zusammengehörigkeitsgefühl, das wir im Laufe von mehr als zwanzig Jahren mit unseren Nachbarn aufgebaut hatten, schien sich fast über Nacht in Luft aufgelöst zu haben. Es war unerheblich, dass wir keine Deutschen waren. Wir waren keine Engländer, das war der springende Punkt. Wir sprachen anders als sie, und deshalb mussten wir feindliche Agenten sein, Spione, die man direkt in ihre Hauptstadt entsandt hatte, um sie auszukundschaften, um ihre Familien ans Messer zu liefern, um ihre Kinder zu töten.
    Wenn ich stehen blieb, um eines der patriotischen Plakate zu lesen, mit denen fast alle Wände der Stadt bepflastert waren – SCHWEIGT UND WARNT JEDEN , DER SCHWATZT !; ACHTUNG : FEIND HÖRT MIT !; EIN UNÜBERLEGTES WORT KANN LEBEN KOSTEN ! –, begriff ich, warum die Leute ihre Unterhaltung abrupt beendeten, sobald sie mich

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