Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
beklemmenden Atmosphäre auch hin und wieder zu Streitigkeiten und Schlägereien kam. Wir waren beherrscht von der ständigen Furcht, die Decke könnte jeden Augenblick über uns einstürzen und uns alle in einer unzugänglichen Schutthalde unter den Straßen der zerstörten Stadt begraben.
Zur Mitte des Jahres 1941 wurden die Bombenangriffe seltener, doch man wusste nie, in welcher Nacht oder zu welcher Nachtzeit die Sirenen losgehen würden – eine Situation, die bei uns zu ständiger Übermüdung und Gereiztheit führte. Obwohl jeder das Geräusch der Bombenexplosionen hasste, der Detonationen, die die Häuser unserer Nachbarn zerstörten, tiefe Krater in die Straßen rissen und jene armen Seelen töteten, die es nicht rechtzeitig in die Bunker geschafft hatten, war es für Soja besonders qualvoll. Allein schon Wörter wie Feuerkraft oder Blutbad reichten aus, um sie zur Verzweiflung zu treiben.
»Wie lange soll das noch so weitergehen?«, fragte sie mich eines Nachts, als wir im Chancery-Lane-Bunker saßen und die Minuten zählten, bis wir uns wieder aus unserer Grabkammer heraustrauen konnten, um die Bombenschäden der vergangenen Nacht in Augenschein zu nehmen. Die inzwischen siebenjährige Arina schlief auf meinem Schoß, halb unter meinem Mantel verkrochen. Ein Kind, das den Krieg für einen ganz normalen Bestandteil des Lebens hielt, weil es sich kaum noch an die Zeit erinnern konnte, als er unseren Alltag noch nicht dominiert hatte.
»Das ist schwer zu sagen«, erwiderte ich, denn ich wollte zuversichtlich klingen, ihr zugleich aber keine falschen Hoffnungen machen. »Bestimmt nicht mehr lange.«
»Aber hast du denn nichts gehört? Hat niemand mit dir gesprochen und dir gesagt, wann wir wieder …«
»Soja«, unterbrach ich sie schnell und schaute mich um, mich vergewissernd, dass uns niemand zuhörte, doch im Bunker war es so laut, dass niemand etwas von unserem Gespräch hätte aufschnappen können. » Hier können wir nicht darüber sprechen.«
»Aber ich halte das nicht mehr aus«, sagte sie, und dann schossen ihr die Tränen in die Augen. »Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht frage, ob wir die kommende Nacht überleben werden. Du hast doch jetzt Freunde, Georgi. Leute, denen du wichtig bist. Könntest du sie nicht fragen …«
»Soja, sei still!«, fauchte ich sie an und schaute mich kurz mit zusammengekniffenen Augen um. »Ich habe es dir bereits gesagt. Ich weiß nichts. Ich kann niemanden fragen. Bitte … Mir ist klar, was das für eine Belastung ist, aber wir können jetzt nicht darüber reden. Nicht hier.«
Arina regte sich in meinen Armen und blickte verschlafen zu mir auf, mit halb geöffneten Augen, wobei ihr Mund leicht zuckte, als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, sobald sie sich vergewissert hatte, dass wir beide, ihr Vater und ihre Mutter, noch immer da waren, um sie zu beschützen. Soja strich ihr so lange über das Haar, bis sie wieder eingeschlafen war.
»Denkst du nicht manchmal auch, dass wir uns den falschen Ort ausgesucht haben, Georgi?«, fragte sie mich, nun mit einer leisen und resignierten Stimme. »Wir hätten nach Paris überall hingehen können.«
»Aber es ist überall so wie hier, meine Liebe«, erwiderte ich ruhig. »Die ganze Welt ist darin verstrickt. Es gibt keinen Ort, wo uns dieser Wahnsinn nicht ereilt hätte.«
Während jener langen Nächte im Bunker wanderten meine Gedanken häufig nach Russland zurück. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es inzwischen in St. Petersburg oder Kaschin aussehen mochte, zwanzig Jahre, nachdem ich das Land verlassen hatte, und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie die Russen wohl den Krieg überstanden, wie sie mit diesem Martyrium fertig wurden. Natürlich war St. Petersburg für mich nie Leningrad gewesen, auch wenn es in den Zeitungen als die Stadt der Bolschewiki bezeichnet wurde. Ich hatte mich auch nie mit dem Namen Petrograd angefreundet, den der Zar zu Beginn des Weltkrieges eingeführt hatte, als er befürchtete, der ursprüngliche Name könnte für eine bedeutende russische Stadt zu teutonisch sein, insbesondere da wir in einen Krieg mit seinem deutschen Vetter verwickelt waren, bei dem es auch um Gebietserweiterungen ging. Ich versuchte mir diesen Stalin vorzustellen, von dem ich so oft gelesen hatte und dessen Gesicht mich misstrauisch machte. Natürlich hatte ich ihn nie kennengelernt, doch während meines letzten Petersburger Jahres hatte ich
Weitere Kostenlose Bücher