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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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beherrscht von Lebensmittelkarten, Ausgehverboten und dem Sirenengeheul des allnächtlichen Fliegeralarms. Ging man durch die Straßen, so begegneten einem dort Zweier- oder Dreiergruppen von Mädchen, die jetzt alle als Krankenschwestern arbeiteten und zwischen den provisorischen Hospitälern und ihren Unterkünften hin und her hasteten, mit bleichen Gesichtern und tief liegenden, dunkel umränderten Augen, die nicht nur vom Schlafmangel herrührten, sondern auch von der tagtäglichen Konfrontation mit den zerschundenen und zerfetzten Körpern ihrer Mitbürger. Ihre weißen Schwesterntrachten waren häufig scharlachrot gesprenkelt, aber sie schienen es nicht mehr zu bemerken, oder es war ihnen egal.
    Seit zwei Jahren rechnete ich damit, dass die Bibliothek auf unbestimmte Zeit geschlossen würde, doch sie zählte zu jenen Symbolen des britischen Lebens, an denen Mr Churchill so trotzig festhielt, und so blieb das Gebäude geöffnet, und diente nun häufig als Zufluchtsort für Adjutanten aus dem Kriegsministerium, die sich in ruhige Ecken des Lesesaals verzogen, wo sie über Landkarten und Fachbüchern brüteten, um ihren Vorgesetzten mit der Präsentation geschichtlich erprobter siegreicher Strategien zu imponieren. Wir mussten mit deutlich weniger Personal als zu Friedenszeiten auskommen, aber Mr Trevors war natürlich noch immer bei uns, denn er war zu alt, um noch eingezogen zu werden. Miss Simpson war bei Kriegsausbruch zu uns gekommen. Als Tochter eines Geschäftsmannes mit guten Beziehungen hatte sie diese Stelle bekommen, »weil sie kein Blut sehen konnte«. Es gab noch etliche andere Hilfsbibliothekare, die alle nicht mehr im wehrfähigen Alter waren, und dann war da noch ich. Dieser russische Bursche. Der Emigrant. Der Mann, der seit fast zwanzig Jahren in London lebte und dem plötzlich alle Welt mit Misstrauen begegnete, und zwar aus einem einfachen Grund: meinem Akzent.
    »Nun, er lässt sich nicht in die Karten sehen, so viel steht fest«, sagte Miss Simpson, als sie zum Ausgabepult zurückkehrte, wo ich nun wieder stand, nachdem es mich zu langweilen begonnen hatte, ihr beim Flirten zuzuschauen.
    »Ach, tatsächlich?«, bemerkte ich, wobei ich mir alle Mühe gab, desinteressiert zu klingen.
    »Ich habe ihn bloß nach seinem Namen gefragt«, fuhr sie fort, ohne sich um meinen Tonfall zu scheren, »und er meinte, das sei ja wohl ziemlich dreist von mir, und ich sagte: Nun, ich nenne Sie Mr Tweed, weil Sie hier jeden Tag in diesem herrlichen Tweedanzug aufkreuzen . Ein Geschenk von Ihrer Frau , fragte ich ihn, oder vielleicht von Ihrer Verlobten? Daraufhin sagte er: Das ist ja wohl meine Privatangelegenheit , total blasiert und von oben herab, und ich sagte, er halte mich hoffentlich nicht für aufdringlich, aber es komme nun mal nicht so oft vor, dass jemand wie er nachmittags bei uns in der Bibliothek erscheine. Jemand wie ich? , fragte er mich. Was wollen Sie damit sagen? Ich erwiderte, ich wolle ihm nicht zu nahe treten, aber er sei mir eben wie jemand Bessergestelltes vorgekommen, also wie jemand, mit dem man sich vielleicht gut unterhalten könne, und, na ja, dass ich, falls er interessiert wäre, später am Abend frei hätte und …«
    »Miss Simpson, ich bitte Sie!«, unterbrach ich sie barsch, bevor ich entnervt die Augen schloss und mir mit den Daumen die Schläfen massierte, denn ihr unablässiges Geschnatter bereitete mir Kopfschmerzen. »Wir sind hier in einer Bibliothek. An einem Ort der Gelehrsamkeit. Und Sie sind hier, um zu arbeiten. Und nicht, um Klatsch und Tratsch zu verbreiten. Oder zu flirten. Könnten Sie also freundlicherweise Ihre …«
    »Na, hören Sie mal!«, fuhr sie mir über den Mund, das Kinn gereckt, die Hände in die Hüften gestemmt, als hätte ich sie gerade tödlich beleidigt. »Nichts für ungut, aber Sie sollten sich mal reden hören, Mr Jatschmenew! So wie Sie sich hier aufführen, könnte man meinen, ich hätte irgendwelche Staatsgeheimnisse an die Deutschen verraten!«
    »Es tut mir leid, wenn ich schroff gewesen bin«, sagte ich mit einem Seufzer. »Aber ich habe hier viel um die Ohren. Da drüben stehen zwei Bücherwagen und warten schon seit heute Morgen darauf, dass sie endlich abgeräumt werden. Und auf den Tischen liegen jede Menge Bücher herum, die wieder in ihre Regale einsortiert werden müssen. Ist es wirklich zu viel verlangt, dass Sie einfach Ihre Arbeit erledigen?«
    Sie funkelte mich kurz an und schürzte die Lippen, wobei sie die Zungenspitze von

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