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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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»Ich nehme an, Sie haben mich dadurch beobachtet.«
    »Ja, Mr Jatschmenew. Wir beobachten gern. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«
    »Machte es mir etwas aus, wäre ich nicht hier, Mr Jones«, sagte ich. »Es ist ja auch nicht so, dass Sie ein Geheimnis daraus gemacht hätten – ich habe Sie da drüben reden gehört. Besonders sicher kommt mir dieses Arrangement nicht vor. Ich hoffe, Sie benutzen den Raum nicht bei Leuten, die wichtiger sind als ich.«
    Er nickte und bedachte mich mit einem entschuldigenden Achselzucken. Dann nahm er auf einem Sessel in der Ecke des Raums Platz und begann, die von mir beschriebenen Seiten sorgfältig zu studieren. Er trug einen anderen Anzug als in der Bibliothek, aber auch dieser war von erlesener Qualität, und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie er sich so etwas in einer Zeit strengster Rationierung beschaffen konnte. Mr Tweed – wie Miss Simpson ihn an jenem Nachmittag genannt hatte – hatte sich mir später als Mr Jones vorgestellt, ohne einen Vornamen zu nennen. Eine ziemlich ungewöhnliche Ouvertüre, die darauf schließen ließ, dass dies genauso wenig sein richtiger Name war wie Miss Simpsons fantasievollerer Vorschlag. Das machte mir jedoch nichts aus. Wer immer er sein mochte, es kümmerte mich nicht. Schließlich war er nicht der erste Mensch in meinem Leben, der vorgab, jemand zu sein, der er nicht war.
    »Ihr Anzug«, sagte ich, als ich ihn dabei beobachtete, wie er meine Sätze genau unter die Lupe nahm, wobei sich sein Gesichtsausdruck von Zeit zu Zeit veränderte und zwischen Zustimmung und Überraschung changierte.
    »Mein Anzug?«, fragte er und schaute von seiner Lektüre auf.
    »Ja, ich bewundere ihn gerade.«
    Er starrte mich an, und seine Mundwinkel wanderten ein Stück nach oben, als wäre er sich nicht sicher, wie diese Bemerkung zu verstehen war. »Vielen Dank«, sagte er dann, mit einem argwöhnischen Beiklang in seiner Stimme.
    »Ich frage mich, wie ein junger Mann zu so einem Anzug kommt. Ich meine, in diesen Zeiten«, fügte ich hinzu.
    »Ich habe eine private Einnahmequelle«, erwiderte er auf der Stelle, wobei mir seine rasche Reaktion zu verstehen gab, dass sich das Thema damit für ihn erledigt hatte. »Diese Übersetzungen sind sehr gut«, fuhr er fort und kam zu mir herüber, um neben mir am Tisch Platz zu nehmen. »Wirklich ausgezeichnet. Sie haben die Fehler vermieden, die unsere anderen Übersetzer meist machen.«
    »Und welche wären das?«
    »Jedes Wort und jede Formulierung exakt so zu übersetzen, wie sie auf dem Papier stehen. Die idiomatischen Unterschiede zwischen den beiden Sprachen nicht zu berücksichtigen. Im Grunde haben Sie diese Briefe gar nicht übersetzt, stimmt’s? Sie haben mir erzählt, was in diesen Briefen steht. Das ist ein gehöriger Unterschied.«
    »Schön, dass es Ihnen gefällt«, sagte ich. »Aber darf ich Sie mal was fragen?«
    »Ja, natürlich.«
    »Ihr Russisch ist offenbar genauso gut wie meins.«
    »Nein, Mr Jatschmenew«, sagte er mit einem Lächeln, »es ist besser.«
    Ich blickte ihn an, von seiner Arroganz belustigt, denn er war mindestens fünfzehn Jahre jünger als ich und lief mit einem Akzent herum, aus dem unverkennbar hervorging, dass er Eton oder Harrow oder eine der anderen exklusiven Privatschulen besucht hatte, wo aus den Sprösslingen reicher Familien junge Gentlemen gemacht wurden. »Sie stammen aus Russland?«, fragte ich ungläubig. »Sie klingen so … englisch.«
    »Das kommt daher, dass ich Engländer bin. Aber ich bin ein paar Mal in Russland gewesen. Moskau. Leningrad, natürlich. Stalingrad.«
    »St. Petersburg«, korrigierte ich ihn schnell. »Und Zarizyn.«
    »Wenn Ihnen das lieber ist. Im Osten bin ich bis zum Mittelsibirischen Bergland gekommen, im Süden bis nach Irkutsk. Aber das war bloß zum Vergnügen. Ich war sogar einmal in Jekaterinburg.«
    Ich hatte wieder auf die Briefe geschaut, während er sprach, und mich noch einmal am Anblick der kyrillischen Buchstaben erfreut, doch bei jenem Wort, beim schrecklichsten aller Wörter, fuhr ich zusammen und starrte ihn an, wobei ich seine Miene nach einem Hinweis durchforschte, der mir vielleicht Rückschlüsse auf seine Geheimnisse erlaubt hätte.
    »Warum?«, fragte ich.
    »Man hat mich dort hingeschickt.«
    »Warum Jekaterinburg?«
    »Man hat mich dort hingeschickt.«
    Ich schaute ihn an und spürte, wie mir vor Aufregung und Angst ein Schauer über den Rücken lief. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mir zum letzten

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