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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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innen gegen die Wange drückte, bevor sie den Kopf schüttelte und mir den Rücken kehrte, um davonzumarschieren, mit so viel Würde und Empörung, wie sie aufbieten konnte. Ich schaute ihr nach und fühlte mich ein wenig schuldig. Ich mochte Miss Simpson. Sie wollte niemandem schaden und war in der Regel eine angenehme Gesellschaft. Doch der Gedanke, Arina könnte sich eines Tages in eine junge Frau wie Miss Simpson verwandeln, ließ mich erschaudern.
    »Ihre Kollegin ist ja ’ne tolle Nummer«, sagte wenig später eine leise Stimme, und als ich aufschaute, erblickte ich Mr Tweed, der direkt vor mir stand. Ich machte Anstalten, sein Buch entgegenzunehmen, doch er hatte keins dabei. »Die kann einem sicher ganz schön auf die Nerven gehen.«
    »Nein, die hat das Herz auf dem rechten Fleck«, erwiderte ich, denn ich empfand genug kollegiale Solidarität, um Miss Simpson gegenüber einem Fremden in Schutz zu nehmen. »Den jungen Leuten bieten sich derzeit einfach wenig Gelegenheiten, um sich zu zerstreuen. Aber ich entschuldige mich für meine Kollegin, falls sie Sie belästigt haben sollte, Sir«, fügte ich hinzu. »Sie ist ein leicht erregbares Ding, das ist alles. Ich glaube, Ihr Interesse schmeichelt ihr, wenn ich das sagen darf.«
    »Mein Interesse?«, fragte er und zog überrascht eine Augenbraue hoch.
    »Der Sachverhalt, dass Sie jeden Tag hierherkommen, um ein Auge auf sie zu werfen.«
    »Deswegen komme ich nicht hierher«, sagte er in einem Tonfall, der mich ihn mit neuen Augen ansehen ließ. Er hatte eine eigentümliche Ausstrahlung, etwas, das darauf hindeutete, dass er womöglich nicht der Gelehrte war, für den ich ihn gehalten hatte.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Gibt es irgendetwas, das ich …«
    »Nun, ich bin nicht wegen ihr hier, Mr Jatschmenew«, sagte er.
    Ich starrte ihn an und merkte, wie mir das Blut in den Adern gefror. Als Erstes galt es nun herauszufinden, ob dieser Mann mit einem Akzent sprach oder nicht. Ob er ebenfalls ein Emigrant war. Ob er einer von uns war.
    »Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte ich ruhig.
    »Sie sind doch Mr Jatschmenew, oder? Mr Georgi Daniilowitsch Jatschmenew?«
    Ich schluckte. »Was wollen Sie von mir?«
    »Was ich von Ihnen will?« Er klang ein bisschen überrascht, doch dann schüttelte er den Kopf und schaute kurz beiseite, bevor er sich ein Stück zu mir herüberbeugte. »Ich will gar nichts von Ihnen. Ich bin nicht derjenige, der Ihre Hilfe braucht – der Ihre Hilfe benötigt .«
    »Wer dann?«, fragte ich, doch er sagte nichts, sondern lächelte mich nur an – die Sorte von Lächeln, die Miss Simpson umgehauen hätte, wäre sie nicht gerade in einem anderen Teil des Lesesaals beschäftigt gewesen.
    Der Luftkrieg über London tobte bereits seit Monaten und hatte sich in letzter Zeit dermaßen verschärft, dass ich glaubte, er würde uns alle in den Wahnsinn treiben. Jede Nacht warteten wir voller Angst darauf, dass das Geheul der Luftschutzsirenen anhob – darauf zu warten, war fast schlimmer als das Geräusch selbst –, und wenn es so weit war, rannten Soja, Arina und ich zum Luftschutzbunker im U-Bahnhof Chancery Lane, dessen zwei lange parallele Tunnel sich binnen kürzester Zeit mit Anwohnern aus den umliegenden Straßen füllten.
    Es gab nur acht solcher Bunker in der Stadt, viel zu wenig, und es handelte sich um finstere, unangenehme Orte, um stickige, lärmerfüllte, übel riechende unterirdische Gänge, wo wir uns ironischerweise weniger sicher fühlten als oben in unseren Häusern. Ungeachtet der strengen Vorschriften, die genau regelten, wer sich in welchen Bunker zu begeben hatte, trafen schon am frühen Abend Bewohner aus entlegeneren Bezirken Londons an den U-Bahnhöfen ein und warteten davor, um sich einen Platz zu sichern. Wurden die Türen schließlich geöffnet, so kam es häufig zu einem unschönen Geschiebe und Gedränge. Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Legende, die, angeheizt von glühendem Patriotismus und einer Verklärung der Vergangenheit, im Laufe der Zeit entstanden ist, kann ich mich nicht an irgendwelche fröhlichen Momente in jenen Bunkern erinnern und auch nur an wenige Nächte, wo zwischen den von Bomben unter die Erde getriebenen Menschen so etwas wie Solidarität geherrscht hätte. Wir sprachen dort unten kaum miteinander, wir lachten nicht, und wir sangen auch keine Lieder. Stattdessen hockten wir im Familienkreis zusammen, zitternd, ängstlich, mit blank liegenden Nerven, wobei es in der

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