Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
aus einer Rede, die Mr Attlee zur Unterstützung der Regierung gehalten hatte. Kurzmeldungen über die jüngsten Luftangriffe. Die Namen einiger Todesopfer, deren Alter und Berufe, allerdings noch nichts über Mr Trevors’ Angehörige. Ich fragte mich, ob sie in den Meldungen des darauffolgenden Tages auftauchen würden oder ob es zu viele Tote gegeben hatte, um sie alle namentlich aufzulisten. Vermutlich war es nicht gut für die öffentliche Moral, wenn man tagtäglich die Namen der Toten veröffentlichte. Ich hatte gerade damit begonnen, einen mich nur mäßig interessierenden Artikel auf den Sportseiten zu lesen, als ich bemerkte, wie zwei Männer vom anderen Ende der Kneipe am Nachbartisch Platz nahmen. Ich schaute kurz auf – ihre Gläser waren halb leer, und ich hatte den Eindruck, dass sie schon einiges intus hatten –, widmete mich aber gleich wieder meiner Zeitung, denn ich hatte keine Lust, mich in ein Gespräch verwickeln zu lassen.
»N’Abend«, sagte einer der beiden und nickte in meine Richtung, ein Bursche etwa in meinem Alter, mit blasser Gesichtsfarbe und verfaulten Zähnen.
»Guten Abend«, erwiderte ich in einem Tonfall, der, wie ich hoffte, jede weitere Konversation im Keim ersticken würde.
»Ich habe gehört, wie Sie vorhin Ihr Bier bestellt haben«, sagte er. »Sie sind nicht von hier, stimmt’s?«
Ich schaute zu ihm hinüber und seufzte, wobei ich mich fragte, ob ich nicht lieber aufstehen und den Pub verlassen sollte, gelangte aber zu dem Ergebnis, dass ich mich nicht von den beiden einschüchtern lassen wollte.
»Doch, bin ich«, erwiderte ich. »Tatsächlich wohne ich hier gleich um die Ecke.«
»Mag sein«, sagte er mit einem Kopfschütteln, »aber Sie sind trotzdem nicht von hier, oder?«
Ich schaute erst ihn an, und dann seinen Begleiter, der etwas jünger war und ziemlich einfältig aussah, und dann nickte ich langsam. »Doch, ich bin von hier«, erwiderte ich ruhig. »Ich lebe hier seit fast zwanzig Jahren.«
»Dann müssen Sie ja ungefähr in meinem Alter sein«, sagte der Mann. »Wo sind Sie die zwanzig Jahre davor gewesen?«
»Möchten Sie das wirklich wissen?«, fragte ich ihn.
»Ob ich das wissen möchte?«, wiederholte er mit einem Lachen. »Und ob ich das wissen möchte, Kumpel! Würde ich denn sonst danach fragen? Ob ich das wissen möchte, fragt er mich!«, fügte er kopfschüttelnd hinzu und schaute dabei in die Runde, als wäre das ganze Lokal sein Publikum.
»Na ja, das schien mir eine ziemliche törichte Frage zu sein.«
»Hören Sie mal, Freundchen!«, sagte der Mann nun etwas nachdrücklicher. »Ich möchte mich nur ein bisschen mit Ihnen unterhalten, das ist alles. Ich bin einfach nur nett, verstehen Sie? So sind wir hier in England. Nett und höflich. Aber vielleicht sind Sie mit unseren Sitten ja nicht so vertraut. Kann das sein?«
»Hören Sie«, sagte ich, wobei ich mein Glas abstellte und ihm direkt in die Augen sah, »ich schlage vor, Sie lassen mich einfach in Frieden, okay? Ich möchte hier in Ruhe mein Bier trinken und Zeitung lesen, mehr nicht.«
»Frieden?«, sagte er, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute seinen Freund an, als wäre dies das Außergewöhnlichste, was ihm in seinem Leben jemals zu Ohren gekommen war. »Hast du gehört, Frankie? Dieser Gentleman hier sagt, er will in Frieden gelassen werden! Ich vermute mal, wir würden alle gern in Frieden gelassen werden, oder?«
»Ja«, sagte Frankie und nickte mit dem Kopf wie ein schreiender Esel. »Ich auf alle Fälle.«
»Aber wir bekommen keinen Frieden, nicht wahr?«, fuhr er fort. »Wegen all dem Ärger, den Ihre Leute uns bescheren.«
»Meine Leute?«, fragte ich stirnrunzelnd. »Wer bitte soll das sein?«
»Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Ich weiß, dass Sie kein Engländer sind. Für mich klingen Sie irgendwie deutsch.«
Jetzt war ich derjenige, der lachen musste. »Glauben Sie wirklich, ich säße hier, in einem Pub mitten in London, wenn ich Deutscher wäre? Meinen Sie nicht auch, dass man mich dann schon längst abgeholt hätte, um mich irgendwo zu internieren?«
»Mag sein, aber woher soll ich das wissen?«, sagte er achselzuckend. »Man könnte Sie übersehen haben. Ich weiß, Ihr Deutsche seid raffinierte Schweinehunde.«
»Ich bin kein Deutscher«, sagte ich.
»Nun, Ihre Aussprache sagt etwas anderes. Sie sind jedenfalls nicht in Holborn aufgewachsen, so viel steht fest.«
»Ja, da haben Sie recht«, räumte ich ein. »Ich bin woanders
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