Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Missbilligung, wie sie ihn bis dahin vermutlich noch nie auf jemandes Gesicht gesehen hatte. »Euer Ekel vor dem Anblick von Blut ist nichts, verglichen mit dem, was diese Männer ertragen müssen. Und wie kann man sich an dem bisschen Blut stören? Es pulsiert doch in allen von uns, egal welche Farbe es hat.« Ich schaute überrascht zu ihm hinüber. Dass wir bei Unterhaltungen wie diesen zugegen waren und hin und wieder sogar einen zustimmenden Kommentar beisteuerten, war nichts Ungewöhnliches, doch eine der Großfürstinnen in aller Öffentlichkeit zu kritisieren, war eine Ungehörigkeit, die nicht unbeantwortet bleiben konnte.
»Ich behaupte nicht, dass ich mehr leide als die Männer, Sergei Stasjewitsch«, erwiderte Tatjana, wobei sich ihre Wangen vor Zorn sichtbar röteten. »Das würde mir nie in den Sinn kommen. Ich wollte bloß sagen, dass dies kein Anblick ist, dem man sich gern aussetzt, mehr nicht.«
»Natürlich nicht, Tatjana«, sagte Maria. »Das bezweifelt ja auch keiner. Aber verstehst du denn nicht? Wir haben hier gut reden, in der Behaglichkeit des Winterpalais, aber denk an die vielen jungen Männer, die da draußen ihr Leben für uns opfern. Denk an sie und sag mir, dass sie dir nicht leid tun.«
»Natürlich tun sie mir leid, Schwester«, protestierte sie, wobei sie vor Frustration die Stimme erhob. »Ich kümmere mich um ihre Wunden, ich lese ihnen vor, ich flüstere ihnen tröstende Worte ins Ohr. Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um ihnen ihr Schicksal zu erleichtern. Sie tun mir nicht leid? Du hast mich völlig falsch verstanden! Und was Sie betrifft, Sergei Stasjewitsch«, fügte sie hinzu und funkelte ihn zornig an, »Sie würden bestimmt nicht so arrogant daherreden, wenn Sie, statt hier zu sitzen, an der Front wären.«
»Tatjana!«, schrie Maria entsetzt.
»Na, das stimmt doch«, sagte diese und warf dabei den Kopf zurück, auf eine Weise, die an ihre Mutter erinnerte. »Wie kommt er dazu, so mit mir zu reden? Was weiß er vom Krieg, wenn er seine Zeit damit verbringt, uns auf Schritt und Tritt zu folgen und seine Fechtkünste zu vervollkommnen?«
»Ich weiß schon ein bisschen vom Krieg«, erwiderte Sergei, wobei er die Augen zusammenkniff und ihr einen wütenden Blick zuwarf. »Schließlich habe ich sechs Brüder, die an der Front für den Fortbestand Eurer Dynastie kämpfen. Besser gesagt, ich hatte sechs Brüder, denn drei von ihnen sind gefallen, einer wird vermisst, und von den beiden anderen habe ich schon seit über sieben Wochen nichts mehr gehört.«
Zu ihrer Ehre muss man sagen, dass Tatjana angesichts seiner Worte leicht errötete und sich vielleicht sogar auch ein bisschen schämte. Als Sergei seine gefallenen Brüder erwähnte, fiel mir auf, wie sich Großfürstin Maria in ihrem Sessel vorbeugte, als wollte sie zu ihm hinübergehen, um ihn zu trösten. Ihr traten die Tränen in die Augen – und in diesem Moment sah sie sehr schön aus, was noch verstärkt wurde durch die Schatten, die das flackernde Kaminfeuer auf ihre blasse Haut warf. Sergei registrierte dies ebenfalls, und seine Mundwinkel bogen sich leicht nach oben, zu einem anerkennenden Lächeln. Es überraschte mich, eine solche Vertrautheit zwischen den beiden zu beobachten, und ich war davon ziemlich bewegt.
»Ich meine ja nicht, dass ich nach einem Grund oder gar nach einem Vorwand suche, um nicht mehr dort hingehen zu müssen«, sagte Tatjana mit Nachdruck, um sicherzustellen, dass wir begriffen, wie ernst sie es meinte. »Ich wünsche mir nur, dass der Krieg bald vorbei ist. Das wünscht sich doch sicher jeder von uns. Dann wird alles wieder so wie früher sein, und wir können endlich wieder ein normales Leben führen.«
»Aber es wird nie wieder so wie früher sein«, hörte ich mich sagen, und nun war ich derjenige, der sich von ihr einen eisigen Blick einfing.
»Wieso sagst du das, Georgi Daniilowitsch?«
»Euer Hoheit, ich wollte bloß sagen, dass sich die Zeiten ändern. Wenn der Krieg vorbei ist, wenn wieder Frieden herrscht, werden die Menschen von ihren Führern mehr verlangen, als sie es in der Vergangenheit getan haben. Das liegt klar auf der Hand. Es wird kaum eine Familie geben, die nicht wenigstens einen Sohn auf dem Schlachtfeld verloren hat. Glaubt Ihr nicht auch, dass die irgendeinen Ausgleich verlangen werden, eine Entschädigung?«
»Eine Entschädigung? Von wem?«, fragte sie kühl.
»Na, von wem wohl? Von Eurem Vater natürlich«, erwiderte ich.
Sie öffnete den
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