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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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hatte. »Alexei, mein Freund. Los, raus aus den Federn! Du müsstest längst aufgestanden sein.«
    Er grunzte und murmelte etwas Unverständliches, bevor er sich wieder auf die Seite rollte. Ich konnte mir vorstellen, wie seine Mutter reagieren würde, wenn sie hereinkam, um ihm einen Abschiedskuss zu gebe, bevor sie zum Lazarett aufbrach, und ihn noch immer im Tiefschlaf vorfand, und deshalb rüttelte ich an seiner Schulter, diesmal nicht gewillt, ihn wieder zu seinen Träumen zurückkehren zu lassen. »Alexei, wach auf!«, beharrte ich. »Du kommst sonst zu spät zum Unterricht.«
    Er öffnete langsam die Augen und starrte mich an, als wüsste er nicht, wer oder wo er ist, bevor er zum Fenster hinüberschaute, wo das Licht durch die Vorhänge hineinströmte.
    »Es ist mitten in der Nacht, Georgi«, stöhnte er. Dann leckte er sich die Lippen und gab ein übertriebenes Gähnen von sich, bevor er erschöpft die Arme ausstreckte. »Ich muss noch nicht aufstehen.«
    »Aber das stimmt nicht«, sagte ich. »Schau, wie hell es schon ist. Es muss bereits …«
    Ich warf einen Blick auf die Uhr, die an der Schlafzimmerwand hing, und stellte zu meiner Überraschung fest, dass es vier Uhr war. Da es jedoch unmöglich war, dass wir alle bis in den Nachmittag hinein geschlafen hatten, musste es noch immer früher Morgen sein.
    »Geh wieder ins Bett, Georgi«, murmelte er, und dann legte er sich auf die Seite und sank sofort wieder in tiefen Schlummer.
    Ich ging in mein Zimmer zurück und legte mich wieder ins Bett, war aber dermaßen verwirrt, dass ich nicht mehr einschlafen konnte.
    Am Morgen fand ich Anastasia allein im Speisesaal vor, als sie gerade ihr Frühstück beendete, und sie erklärte mir das Phänomen.
    »Wir nennen es die Weißen Nächte«, sagte sie. »Hast du schon mal davon gehört?«
    »Nein«, erwiderte ich.
    »Ich glaube, das ist typisch für St. Petersburg. Es hängt damit zusammen, dass die Stadt so hoch im Norden liegt. Monsieur Gilliard hat es uns kürzlich erklärt. Zu dieser Zeit des Jahres verschwindet die Sonne ein paar Tage lang nicht hinter dem Horizont, und deshalb wird es nachts nicht dunkel. Man hat den Eindruck, als wäre es die ganze Zeit über heller Tag, obwohl in den frühen Morgenstunden eigentlich eher so eine Art Dämmerlicht herrscht.«
    »Unglaublich!«, bemerkte ich erstaunt. »Ich war mir sicher, ich hätte verschlafen.«
    »Oh, man hätte dich nicht verschlafen lassen«, erwiderte sie mit einem Achselzucken. »Irgendjemand wäre schon gekommen, um dich aus dem Bett zu scheuchen.«
    Ich nickte und war ein wenig verärgert über ihre letzte Bemerkung, ein Gefühl, das sich erst wieder legte, als sie zu mir herüberkam und mich, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass uns niemand beobachten konnte, sanft auf die Lippen küsste.
    »Bei jungen Liebespaaren ist es Brauch, während der Weißen Nächte am Ufer der Newa entlangzuspazieren«, sagte sie und lächelte mich dabei kokett an.
    »Ach, tatsächlich?«, fragte ich, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.
    »Ja. Es heißt, manche von ihnen schmieden dabei Heiratspläne – in diesen eigenartigen Weißen Nächten ereignen sich die eigenartigsten Dinge.«
    »Wenn das so ist«, sagte ich, wobei ich mich spielerisch aus unserer Umarmung löste, als wäre mir eine solche Bindung ein Gräuel, »dann sollte ich jetzt wohl lieber gehen.«
    »Georgi!«, rief sie lachend.
    »Ich habe bloß Spaß gemacht«, sagte ich und nahm sie wieder in die Arme, allerdings mit einer gewissen Nervosität. Von uns beiden war ich immer derjenige, der mehr Angst davor hatte, erwischt zu werden – vielleicht, weil mir klar war, dass meine Bestrafung bei einer Entdeckung unserer Liaison wesentlich härter ausfiele als ihre. »Aber ich denke, für eine Verlobung wäre es noch etwas zu früh, oder? Ich kann mir gut vorstellen, was dein Vater dazu sagen würde.«
    »Oder meine Mutter.«
    »Oder sie«, stimmte ich zu und zog eine Grimasse, denn obwohl mir die Vorstellung, der Zar ließe mich eine seiner Töchter heiraten, völlig absurd vorkam, war ich irgendwie davon überzeugt, dass er gegen eine Liebesheirat weniger einzuwenden hätte als die Zarin. Doch das war unerheblich, denn eine so unstandesgemäße Verbindung würde nie und nimmer infrage kommen – ein Sachverhalt, mit dem Anastasia sich genauso ungern befasste wie ich.
    »Aber wie dem auch sei«, sagte sie und umschiffte geschwind die aufgekommene Betretenheit, »du kannst nicht in St. Petersburg sein

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