Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
später massierte er sich wie zu Tode erschöpft mit den Fingerspitzen die Schläfen. Mir fiel auf, dass er in den vergangenen Monaten gehörig an Gewicht verloren hatte und sein dunkles Haar von Tag zu Tag grauer wurde. Er wirkte wie jemand, dem eine große und schreckliche Last aufgebürdet war, die er möglicherweise nicht mehr lange schultern konnte. »England befürchtet, wir könnten uns zurückziehen«, fuhr er mit müder Stimme fort. »Das hat Vetter Georgie mir in einem Brief mitgeteilt, und was Frankreich betrifft …«
»Du hast ihm doch wohl gesagt, dass wir das niemals tun würden, oder?«, unterbrach ihn die Zarin, allein schon von der Vorstellung völlig entsetzt.
»Ja, natürlich, Sunny«, erwiderte er gereizt. »Es wird allerdings immer schwieriger, das zu begründen. Russlands polnisches Territorium ist inzwischen weitgehend von Vetter Willy und seinen Bluthunden besetzt, vom Baltikum ganz zu schweigen.« Ich verdrehte die Augen, als ich ihn dies sagen hörte. Es war schon sehr außergewöhnlich, dass die Herrscher all dieser Länder so eng miteinander verwandt waren. Es schien, als wäre das Ganze nichts weiter als ein Kinderspiel: Willy, Georgie und Nicky, wie sie in einem Garten herumtollten, ihre Forts und Spielzeugsoldaten aufbauten und sich einen Nachmittag lang prima amüsierten, bis einer von ihnen es zu toll trieb und die drei von einem verantwortungsbewussten Erwachsenen getrennt werden mussten. »Nein, mein Entschluss steht fest«, sagte er mit resoluter Stimme. »Wenn ich mich an die Spitze des Heeres stelle, so ist dies eine Botschaft, nicht nur an unsere Alliierten, sondern auch an unsere Feinde, ein Beweis für die Ernsthaftigkeit meiner Absichten. Und es wird auch gut für die Moral der Männer sein. Es ist wichtig, dass sie mich als einen Kriegerzar sehen, als einen Herrscher, der an ihrer Seite kämpft.«
»Na, dann wirst du wohl gehen müssen«, erwiderte sie achselzuckend, wobei sie das Fleisch eines Hummers aus dessen Schale herauslöste und auf etwaige Mängel untersuchte, bevor sie ihm die Ehre gewährte, von ihr verspeist zu werden. »Aber in deiner Abwesenheit …«
»Wirst du natürlich die Staatsgeschäfte übernehmen«, sagte er, ihre Frage vorausahnend. »Wie es der Tradition entspricht.«
»Danke, Nicky«, sagte sie lächelnd und beugte sich zu ihm hinüber, um ihre Hand für einen Moment auf seine zu legen. »Ich freue mich, dass du so viel Vertrauen in mich hast.«
»Natürlich habe ich das«, erwiderte er, wobei er so klang, als wäre er von der Weisheit seiner Entscheidung nicht sonderlich überzeugt, doch er wusste, dass er seiner Frau unmöglich jemanden vor die Nase setzen konnte. Der einzige dafür infrage kommende Kandidat war elf Jahre alt und einer solchen Verantwortung noch nicht gewachsen.
»Keine Sorge«, sagte die Zarin ruhig und wandte dabei den Blick von ihrem Gatten ab, »meine Berater werden stets in meiner Nähe sein. Und du kannst dich darauf verlassen, dass ich auf deine Minister hören werde, sogar auf Stürmer, obwohl ich diesen Menschen nicht ausstehen kann.«
»Aber er ist ein tüchtiger Ministerpräsident, Liebling.«
»Er ist ein Geck und ein Feigling«, erwiderte sie schnippisch. »Aber du hast ihn ausgewählt, und ich werde ihm mit der Höflichkeit begegnen, die seiner Stellung gebührt. Und Vater Grigori ist ja auch noch da. Sein Rat dürfte von unschätzbarem Wert sein.«
Ich bemerkte, wie der Zar kurz erstarrte, als sie den Namen des Starez erwähnte, und sein nervös zuckender Unterkiefer verriet, wie wenig ihm die Vorstellung behagte, dass dieses boshafte Geschöpf irgendeinen Einfluss bei Hofe ausüben sollte, doch er behielt etwaige Vorbehalte oder Einwände für sich und nickte stattdessen resigniert.
»Dann weiß ich dich ja in guten Händen«, sagte er leise, nach einer beachtlichen Pause, und damit war alles zu diesem Thema gesagt.
»Allerdings werde ich nicht meine ganze Zeit mit Staatsangelegenheiten verbringen können«, fuhr die Zarin etwas später fort, wobei ihre Stimme nun ein bisschen ängstlich klang, und ich ertappte mich dabei, wie ich meinen Blick auf sie richtete, so wie ihr Gatte, der seine Teetasse absetzte und die Stirn runzelte.
»Ach ja?«, fragte er. »Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe eine Idee«, sagte sie. »Und ich hoffe, sie wird dir gefallen.«
»Nun, das kann ich erst sagen, wenn du mir mitgeteilt hast, worum es geht, oder?«, sagte er und lächelte sie an, obgleich
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