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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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und dir die Weißen Nächte entgehen lassen. Wir beide sollten heute Nacht ausgehen.«
    »Wir?«, fragte ich. »Du meinst, wir sollten uns zusammen sehen lassen?«
    »Ja, warum nicht? Auch wenn es draußen hell ist, es ist ja trotzdem Nacht. Der ganze Palast wird schlafen. Wir könnten uns heimlich hinausschleichen, gut verkleidet, und niemand wird je Wind davon bekommen.«
    Ich runzelte die Stirn. »Ist das nicht ein bisschen riskant?«, fragte ich. »Was ist, wenn man uns erkennt?«
    »Uns erkennt schon niemand«, beharrte sie. »Das heißt, solange wir nicht die Aufmerksamkeit auf uns lenken.«
    Ich war mir nicht sicher, ob das tatsächlich eine gute Idee war, doch Anastasias Begeisterung riss mich am Ende mit, genauso wie die Vorstellung, dass wir beide Hand in Hand am Flussufer entlangspazieren würden, wie all die anderen jungen Liebespaare, die dort abends herumbummelten. Zur Abwechslung würden wir einmal ganz normale Menschen sein, nicht eine Großfürstin und ein Mitglied der Leibgarde, nicht eine von Gott Auserwählte und ein gewöhnlicher Muschik, sondern einfach nur zwei Menschen wie alle anderen auch.
    Georgi und Anastasia.
    Für gewöhnlich begab sich die kaiserliche Familie früh zu Bett, vor allem jetzt, wo der Zar in der Stawka einquartiert war und die Zarin und ihre beiden ältesten Töchter schon um sieben Uhr aufstehen mussten, um eine Stunde später ihren Dienst im Lazarett anzutreten. Und so beschlossen wir, uns um drei Uhr morgens auf dem Palaisplatz an der Alexandersäule zu treffen, denn wir waren uns sicher, dass dann niemand mehr wach wäre, um uns dabei zu erwischen, wie wir den Palast verließen. Ich ging wie immer um Mitternacht zu Bett, schlief aber nicht. Stattdessen nahm ich mir ein Buch vor, das ich in der Bibliothek ausgeliehen hatte, einen Band mit Gedichten von Puschkin, in dem ich in letzter Zeit gelesen hatte, um etwas für meine Bildung zu tun – ich verstand so gut wie nichts, konzentrierte mich aber dennoch nach besten Kräften auf die Worte. Als es Zeit war zu gehen, zog ich statt meiner Gardistenuniform eine gewöhnliche Hose, ein Hemd und einen Mantel an und schlich dann die Treppe hinunter und hinaus in die ungewöhnlich helle Nacht.
    Der Platz war so ruhig, wie ich ihn vorher noch nie erlebt hatte, doch es waren dort noch immer Leute unterwegs, allesamt in gehobener Stimmung wegen der nächtlichen Illumination. Gruppen von Soldaten schlenderten lärmend vorbei, offenbar auf der Rückkehr von irgendeinem Abenteuer. Zwei junge Prostituierte mit grell geschminkten Gesichtern grinsten anzüglich in meine Richtung und verhießen mir all jene sinnlichen Wonnen, die ich noch immer nicht kannte und nach denen ich mich zugleich verzweifelt sehnte. Betrunkene, die von irgendeinem Gelage nach Hause taumelten, grölten alte Lieder, wobei sie keinen Ton trafen und sich im Text verhaspelten, sofern sie sich überhaupt noch daran erinnerten. Ich sprach mit niemandem und ließ mich auf keine der mir gemachten Avancen ein, sondern wartete stumm an unserem vereinbarten Treffpunkt, bis ich meinen Liebling hinter den Kolonnaden auftauchen und mir mit einer behandschuhten Hand zuwinken sah. Ihre Aufmachung war mehr als ungewöhnlich. Ein schlichtes Kleid. Darüber eine Duschegrejka, eine ärmellose, pelzgefütterte Jacke, als zweite Bekleidungsschicht unter dem Letnik des einfachen Volkes. Ein Paar billige Schuhe. Ein Kopftuch. Ich hatte sie noch nie in einem dermaßen schmucklosen Aufzug gesehen.
    »Ach du meine Güte«, sagte ich, als ich auf sie zuging, und schüttelte den Kopf, während ich gleichzeitig versuchte, nicht laut loszulachen. »Wo in aller Welt hast du diese Klamotten her?«
    »Die habe ich meiner Zofe aus dem Kleiderschrank geklaut«, sagte sie kichernd. »Ich werde die Sachen nachher wieder zurücklegen, und sie wird nie davon erfahren.«
    »Aber wieso?«, fragte ich sie. »Ist es nicht unter deiner Würde, dich in so etwas blicken zu …«
    »Unter meiner Würde?«, fragte sie mich überrascht. »Wie kommst du darauf, Georgi? Du kennst mich kein bisschen, wenn du glaubst, dass ich das so empfinde.«
    »Nein«, sagte ich schnell. »Nein, so habe ich das nicht gemeint. Es ist bloß …«
    »Es könnten noch Leute unterwegs sein, die mich erkennen würden«, sagte sie, wobei sie um sich blickte und das Kopftuch tiefer in ihre Stirn zog. »Das ist eher unwahrscheinlich, aber trotzdem möchte ich nichts riskieren. In diesen Sachen werde ich nicht aus der Menge herausstechen,

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