Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
alle. Denk an das, was ich getan habe. Es hört nie auf, verstehst du? Sie sind der Preis, den ich für mein Leben bezahlen muss. Sogar Leo …«
»Leo!« Ich konnte kaum glauben, dass sie seinen Namen erwähnte. Natürlich hatte ihn keiner von uns beiden vergessen – wir würden ihn nie vergessen –, aber er war, so wie alle anderen auch, ein Teil der Vergangenheit. Und Soja und ich, wir begruben die Vergangenheit sehr tief. Wir sprachen nie darüber. Auf diese Weise überlebten wir. »Was mit Leo geschehen ist, das war ganz und gar seine Schuld.«
»Ach, Georgi«, sagte sie leise, wobei sie kurz lachte und den Kopf schüttelte. »So unbedarft zu sein wie du. Wie schön muss das sein.«
Ich öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, nicht verletzt von dem, was sie gesagt hatte, sondern niedergeschmettert. Denn sie hatte ja recht. Ich war unbedarft, ein Trottel. Ich wollte meine Liebe für sie zum Ausdruck bringen, doch dies schien so leer, so banal, verglichen mit dem, was sie sagte. Mir fiel nichts mehr ein, was ich hätte sagen können.
»Oh, sieh doch!«, rief sie einen Augenblick später und klatschte entzückt in die Hände, als sie sah, wie die Eingangstür ihres Lieblingscafés aufging. Ihre in der dunkler werdenden Nacht widerhallende plötzliche Begeisterung erinnerte mich an das unschuldige Mädchen, in das ich mich einst verliebt hatte. Die letzten paar Minuten unserer Unterhaltung waren wie weggewischt. »Schau, sie haben wieder geöffnet. Ich dachte, sie hätten für immer dichtgemacht. Komm, Georgi, lass uns reingehen und hier zu Abend essen.«
Sie rannte so schnell auf die Straße, ohne nach links oder rechts zu schauen, dass sie beinahe von einem Bus überfahren wurde, dessen Hupe gellend ertönte, als sie mit einem Mal vor ihm auftauchte. Mir blieb das Herz stehen, als ich mir ausmalte, wie sie unter den Rädern des Busses zermalmt wurde, doch als dieser an mir vorbeigefahren war, sah ich, wie sie in die Wärme des Cafés eilte und offenbar gar nicht mitbekommen hatte, dass sie gerade um Haaresbreite dem Tod entronnen war.
Fünf Monate später unternahm sie ihren ersten Selbstmordversuch.
Der Tag begann wie alle anderen, einmal abgesehen davon, dass ich rasende Kopfschmerzen hatte und mich beim Frühstück darüber beklagte. Da ich fast nie krank wurde, war das für mich ein ganz ungewohntes Gefühl. Ich war aus einem wirren und dramatischen Traum erwacht – einem dieser Träume, den man um keinen Preis vergessen möchte, um sich später noch einmal eingehender damit zu befassen, der einem aber dennoch binnen Kurzem entgleitet und sich auflöst wie Zucker in Wasser. Es musste eine Marschkapelle oder ein Schlagzeugorchester darin vorgekommen sein, denn von dem Moment an, da ich die Augen aufschlug, tönte das dumpfe Hämmern der Migräne in meinem Kopf, zehrte an meinen Kräften und drohte im Verlauf des Morgens immer schlimmer zu werden.
Soja hatte beim Frühstück noch immer ihr Nachthemd an, was sehr ungewöhnlich war, denn normalerweise zog sie sich für die Arbeit an, während ich mein Bad nahm. Ihr gekochtes Ei mit Toast fehlte ebenfalls, und sie saß mir mit einem geistesabwesenden Gesichtsausdruck gegenüber, ohne die Tasse Tee zu beachten, die ich ihr hingestellt hatte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich, wobei das Sprechen die Trommelschläge hinter meinen Augen noch verstärkte. »Oder bist du etwa auch krank?«
»Nein, mir geht’s gut«, erwiderte sie rasch, wobei sie mir ein angedeutetes Lächeln schenkte und den Kopf schüttelte. »Ich bin heute etwas spät dran, das ist alles. Ich bin noch immer ein bisschen müde. Aber jetzt sollte ich mich wirklich sputen.«
Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Als ich da am Tisch saß, hatte ich irgendwie den Eindruck, dass etwas nicht stimmte – ich glaubte, bei ihr eine gewisse Bedrücktheit zu spüren, doch in meinem Kopf hämmerte es dermaßen, dass ich mich außerstande sah, sie danach zu fragen. Das Fenster war geöffnet, und ich merkte, dass es ein kühler, frostiger Morgen war. Ich wollte so schnell wie möglich nach draußen auf die Straße, denn ich hoffte, die frische Luft würde die Migräne verscheucht haben, sobald ich Bloomsbury erreicht hatte.
»Na dann bis heute Abend«, sagte ich und ging ins Schlafzimmer, um ihr einen Abschiedskuss zu geben. Zu meiner Überraschung saß sie noch immer auf dem Bett und starrte die nackte Wand vor ihr an. »Soja?«, fragte ich stirnrunzelnd. »Was ist
Weitere Kostenlose Bücher