Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass sie ihr Talent vergeudete, wenn sie eine so niedere Tätigkeit ausübte, doch sie schien zufrieden mit ihrer Stelle und suchte vorerst keine anspruchsvollere Arbeitsmöglichkeit.
»Ich gehe gern in die Fabrik«, erwiderte sie, wann immer ich sie darauf ansprach. »Da sind so viele Leute, dass ich dort nicht weiter auffalle. Jeder hat eine einzige einfache Aufgabe zu erfüllen, und jeder erledigt sie ruhig und ohne großes Theater. Ich werde dort nicht beachtet. Das gefällt mir. Ich will nicht auffallen. Ich möchte nicht bemerkt werden.«
Wenn sie nach Hause kam, beklagte sie sich jedoch manchmal darüber, wie schwer das Geplapper ihrer Kolleginnen zu ertragen sei, denn ihr Arbeitsplatz lag mitten in einer langen Reihe von Maschinennäherinnen, die ihren Mund aufmachten, wenn morgens das Pfeifsignal ertönte, und ihn erst dann wieder schlossen, wenn sie nach Feierabend zu Hause angelangt waren. Da saßen acht Frauen zu ihrer Linken, und noch einmal sechs zu ihrer Rechten, und vor und hinter ihr befanden sich jeweils fünf solcher Reihen. Das Geschnatter der Arbeiterinnen hätte wohl jedem Kopfschmerzen bereitet, doch es hatte auch etwas Gutes, denn es lenkte vom ständigen Surren und Summen der Nähmaschinen ab.
In England zeigte man sehr viel mehr Interesse an unserem Akzent, als es in Frankreich der Fall gewesen war, wo die Anwesenheit verschiedener Nationalitäten seit Kriegsende zu etwas völlig Normalem geworden war. Nach unserem gut fünfjährigen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt hatte unsere Aussprache eine eigenartige zwitterhafte Prägung angenommen, die irgendwo zwischen St. Petersburg und Paris angesiedelt war. Wir wurden regelmäßig gefragt, woher wir stammten, und wenn wir wahrheitsgemäß antworteten, wurde dies häufig mit einer hochgezogenen Augenbraue und manchmal mit einem verhaltenen Nicken quittiert. In der Regel behandelte man uns jedoch höflich, denn wir befanden uns damals im Jahr 1924 – der letzte Krieg war lange vorbei und der nächste noch nicht in Sicht.
Eine junge Frau namens Laura Highfield, die an der Maschine neben Soja arbeitete, entwickelte ein reges Interesse an ihr. Laura war eine Träumerin, und dass Soja in Russland geboren worden war und so viele Jahre ihres Lebens in Frankreich verbracht hatte, fand sie romantisch und exotisch, und so fragte sie sie erbarmungslos nach ihrer Vergangenheit aus, jedoch ohne dass ihre Neugier gestillt wurde. An einem Abend gegen Ende des Frühjahrs, als die schneebedeckte Landschaft mich an zu Hause erinnerte, beendete ich meine Arbeit in der Bibliothek etwas früher als sonst und spazierte zur Fabrik, um Soja dort abzuholen und sie zum Abendessen in eines der preiswerten Cafés auszuführen, die ihren Heimweg säumten. Als wir losgingen, erblickte uns Laura, rief den Namen meiner Frau, winkte hektisch und lief auf uns zu.
Es müssen an die dreihundert Frauen gewesen sein, die gleichzeitig durch die Fabriktore nach draußen strömten, in Klatsch und Tratsch vertieft. Das durchdringende Geräusch des Signalhorns, das wiederholt das Ende des Arbeitstages verkündete, versetzte mich unversehens in einen eigenartigen Zustand der Tagträumerei. Es erinnerte mich an die Dampfpfeife des kaiserlichen Zuges, mit dem die Zarenfamilie das ganze Jahr über unablässig durch die russische Landschaft gereist war. Als das Signalhorn zum ersten Mal ertönte, sah ich Nikolaus und Alexandra vor mir, wie sie sich in ihrem privaten Salonwagen mit dem dicken, von ihrem goldenen Wappen gezierten Teppich von St. Petersburg zu ihrem Palast in Livadia in die Frühjahrsferien fahren ließen; es ertönte ein weiteres Mal, und ich sah Olga, wie sie französische oder englische Vokabeln paukte, wenn wir im Mai nach Peterhof fuhren; beim nächsten Mal sah ich Tatjana, wie sie einen ihrer Liebesromane verschlang, wenn der Zug im Juni der kaiserlichen Jacht und den finnischen Fjorden entgegenbrauste; es ertönte erneut, und ich musste an Maria denken, wie sie auf die kaiserliche Jagdhütte in den polnischen Wäldern schaute; und dann sah ich Anastasia, wie sie sich verzweifelt bemühte, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erlangen, wenn sie wieder auf die Krim zurückkehrten; und beim letzten Signal ist es November, und der Zug zuckelt für den Winter im Schneckentempo nach Zarskoje Selo, denn auf Geheiß der Zarin darf er nicht schneller als vierundzwanzig Stundenkilometer fahren, damit der Zarewitsch von den Stößen der
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