Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
illuminiert wurde. Auf dem Fußboden, mit dem Gesicht nach unten, lag unverkennbar Vater Grigori, sein schwarzer Umhang um ihn herum ausgebreitet, seine Arme zu einer grotesken Pose gespreizt, seine langen Haare verfilzt und schmutzig auf den hellen Marmorfliesen.
»Da es mit dem Gift nicht geklappt hatte, dachte ich mir, es würde mit Kugeln eher hinhauen«, sagte der Fürst, als ich näher an den Leichnam herantrat und ihn von oben musterte. »Ich habe ihm insgesamt vier verpasst, eine in den Bauch, eine ins Bein, eine in die Nieren und eine in die Brust. Jemand hätte das schon vor Jahren tun sollen – dann wären wir nicht in den Schlamassel geraten, in dem wir heute stecken.«
Ich hörte ihm kaum zu, sondern starrte stattdessen auf die Leiche. Ich war froh, dass jemand anders die Sache erledigt hatte, und ich fragte mich einen Moment lang, ob ich tatsächlich die Kraft gehabt hätte, ein so scheußliches Verbrechen zu begehen. Ich empfand jedoch keine Freude, keine Befriedigung. Stattdessen stiegen Ekel und Abscheu in mir auf, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als in die Geborgenheit meines Bettes im Winterpalais zurückzukehren, auch wenn es, nach den Ereignissen dieser Nacht, vielleicht nicht mehr lange mein Bett sein würde. Nein, hätte ich die Wahl gehabt, so hätte ich es vorgezogen, in den Armen meiner Liebsten, meiner Anastasia, zu liegen, doch das war bis auf Weiteres unmöglich.
»Ich bin froh, dass Ihr es getan habt«, sagte ich zum Fürsten und wandte mich ihm zu, um ihn zu beruhigen, damit er nicht auf die Idee käme, mich als Tatzeugen ebenfalls ins Jenseits zu befördern. »Er hat es verdient und …«
Ich kam nicht dazu, meinen Satz zu vollenden, denn in diesem Moment entfuhr Vater Grigoris Körper ein leises Ächzen, seine Augen öffneten sich weit, und dann begann er zu lachen, zu kreischen und Laute von sich zu geben, die eher an ein Tier erinnerten als an einen Menschen. Mir stockte der Atem, als er seinen Mund zu einem schaurigen Lächeln verzog, wobei sich seine Lippen öffneten, um seine gelben Zähne und eine dunkle Zunge zum Vorschein zu bringen. Ich wollte laut schreien und davonlaufen, schaffte aber weder das eine noch das andere. Binnen einer Sekunde jagte ihm der Fürst eine Kugel ins Herz. Der Körper des Starez bäumte sich auf, dann erschlaffte er und sackte in sich zusammen.
Nun war er tot.
Eine knappe Stunde später waren wir ihn los. Wir schleppten ihn zu dritt ans Ufer der Newa und warfen ihn hinein. Er versank schnell, und als wir einen letzten Blick auf ihn warfen, starrte sein grässliches Gesicht zu uns hinauf, mit noch immer weit aufgesperrten Augen, bis er endlich in der schwarzen Tiefe verschwunden war.
Jene Nacht war eine der kältesten seit Menschengedenken, und der Fluss war fast eine Woche lang zugefroren.
Als das Eis ein wenig zu tauen begann und Rasputins Leichnam entdeckt wurde, waren seine Arme ausgebreitet, seine Hände zu Klauen verkrampft, die Fingernägel weiß von Eisschabseln. Er hatte offenbar versucht, aus der Newa herauszukommen. Er war noch immer nicht tot gewesen und musste wer weiß wie lange an dem dicken Eis herumgekratzt haben. Das Zyankali, die fünf Kugeln des Fürsten, Ertränken – nichts davon hatte funktioniert. Er hatte alles überlebt.
Ich weiß nicht, was ihm am Ende den Garaus gemacht hatte. Für mich zählte nur, dass ich ihn los war.
1924
In London Arbeit zu finden, war für Soja und mich kein Problem. Schon wenige Wochen nach unserer Ankunft aus Paris hatten wir beide anständige Jobs gefunden und verdienten genug, um einigermaßen über die Runden zu kommen, genug, um uns davon abzuhalten, zu viel über die Vergangenheit nachzudenken. Mein Bewerbungsgespräch bei Mr Trevors fand am selben Vormittag statt, an dem Soja eine Stelle in der Newsom’s-Textilfabrik angeboten wurde, einem Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Damenunterwäsche und Nachtgewändern spezialisiert hatte. Am nächsten Morgen, und zukünftig an jedem Werktag, verließ sie um sieben Uhr unsere kleine Wohnung in Holborn, in der grauen, tristen Einheitskluft der Arbeiterinnen, eine ähnlich unkleidsame Stoffmütze auf ihrem Kopf. Doch nichts an dieser Aufmachung, keine Stofffaser, keine Naht, kein Faden, konnte ihre Schönheit auch nur im Geringsten mindern. Ihre Aufgaben waren eintönig, und sie hatte kaum Gelegenheit, eine jener Fertigkeiten einzusetzen, die sie sich in Paris angeeignet hatte, doch sie war dennoch stolz auf ihre Arbeit.
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