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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Vereinigung angehörten.
    »Er lief zu den beiden hin, packte den Spanier am Arm, riss ihn herum und machte ihm Vorhaltungen wegen der Art und Weise, in der er die alte Frau behandelte. Er schubste ihn, und der andere schubste zurück, und sie fingen an, sich laut zu beschimpfen – wirklich kindisch. Als das Ganze aus dem Ruder zu laufen drohte, ging ein Gendarm dazwischen und trennte sie, was Leo noch wütender machte.
    Er warf dem jungen Polizisten vor, er würde für einen Ausländer Partei ergreifen, gegen einen seiner eigenen Landsleute, und diese Bemerkung führte zu einem heftigen Wortwechsel. Und ihr wisst ja, wie er ist, wenn er sich mit der Staatsgewalt konfrontiert sieht. Ich vermute, dass er auf ihn losging und ihn wissen ließ, was er von les gardiens de la paix hielt, und ehe jemand eingreifen konnte, hatte Leo dem Spanier einen Schlag auf die Nase verpasst und dann dem Polizisten einen ins Gesicht.«
    »Ach du lieber Gott!«, sagte ich. Leo war ein kräftiger Bursche – ich hätte keinen seiner Hiebe einstecken wollen.
    »Danach blieb dem Polizisten natürlich keine andere Wahl, als ihn festzunehmen«, fuhr Sophie fort, »doch Leo riss sich los, vielleicht um wegzulaufen, und schubste ihn zur Seite. Unglücklicherweise kam der junge Polizist dabei ins Straucheln und stürzte fünfzehn oder zwanzig Stufen hinab, bis zum nächsten Treppenabsatz, wo er mit dem Kopf auf die Steinplatten krachte. Als Leo zu ihm hinunterhastete, um ihm zu helfen, starrten die Augen des Polizisten bereits gen Himmel. Er war tot.«
    Wir saßen stumm da, und ich blickte zu Soja hinüber. Ihr Gesicht war kreidebleich, und sie biss die Zähne zusammen, als hätte sie Angst davor, wie sie auf diese Geschichte reagieren könnte, wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf ließe. Schon der Gedanke an Gewalt, an den Tod, an den Augenblick, wo ein Leben endete, reichte aus, um sie aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, um sie zutiefst zu beunruhigen, um wieder all die schrecklichen Erinnerungen in ihr hochkommen zu lassen. Keiner von uns beiden sagte etwas. Stattdessen warteten wir darauf, dass Sophie fortfuhr, die nun, wo sie uns das Ganze erzählte, wesentlich gefasster wirkte.
    »Er versuchte wegzulaufen«, sagte sie schließlich. »Und das machte die Sache natürlich noch schlimmer. Er kam sogar ziemlich weit. Er rannte durch die Rue de la Bonne, und dann in die Rue Saint-Vincent, und dann machte er wieder kehrt und lief in Richtung der Saint-Pierre-de-Montmartre …«
    Als ich dies hörte, hielt ich den Atem an: Meine erste Unterkunft in Paris hatte sich dort befunden, und die Wohnung, die Soja und ich uns seit unserer Hochzeit teilten, lag in der Rue Cortot, nicht weit von der Kirche Saint-Pierre entfernt, und ich fragte mich, ob Leo vielleicht vorgehabt hatte, sich bei uns zu verstecken.
    »… doch mittlerweile waren ihm sechs oder sieben Gendarmen auf den Fersen, aus allen Straßen schrillten ihre Trillerpfeifen, und schließlich überwältigten sie ihn und warfen ihn zu Boden. Oh, Soja«, schrie sie und streckte die Hand nach ihrer Freundin aus, »sie haben ihn grün und blau geschlagen! Eines seiner Augen ist zugeschwollen, und seine Wangen sind fast purpurrot von Blutergüssen. Du würdest ihn kaum wiedererkennen, wenn du ihn jetzt sehen könntest. Sie sagen, sie hätten ihn nicht anders zur Räson bringen können, aber das kaufe ich ihnen nicht ab.«
    »Es war ein tragischer Unfall«, sagte Soja ruhig. »Das müssen sie doch erkennen, oder? Und dann auch noch wegen einer solchen Nichtigkeit. Dieser Spanier hat doch genauso viel Schuld daran.«
    »Sie sehen das nicht so«, sagte Sophie mit einem Kopfschütteln, und dann schossen ihr wieder die Tränen in die Augen – ein tiefes Schluchzen stieg direkt aus ihrem Herzen empor, und als ihr schließlich bewusst wurde, was geschehen war, drängten alle bis dahin unterdrückten Gefühle mit aller Macht an die Oberfläche. »Sie betrachten es als Mord. Man wird ihn vor Gericht stellen. Er könnte für viele Jahre hinter Gitter kommen – vielleicht sogar lebenslänglich. Wenn man ihn jemals entlässt, wird er ein alter Mann sein. Und ich kann nicht ohne ihn leben, versteht ihr?«, fügte sie hinzu, wobei sich ihre Stimme vor Hysterie überschlug. »Ohne ihn will ich nicht leben!«
    Ich merkte, dass der Cafébesitzer argwöhnisch zu uns herüberschaute und uns zu verstehen gab, dass wir gehen sollten. Er räusperte sich hörbar, und ich nickte ihm zu, warf ein paar Francs auf

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