Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
sie, und an ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er tiefer in der Tinte saß, als ich zunächst angenommen hatte. »Georgi, er hat einen Gendarmen getötet!«
Mir fiel die Kinnlade herunter, und ich spürte, wie mich angesichts dieser Worte ein leichter Schwindel überkam. Leo und seine Freundin Sophie waren unsere beiden engsten Freunde in Paris, die ersten Menschen, die wir dort näher kennengelernt hatten. Wir hatten oft gemeinsam zu Abend gegessen, wir hatten uns bei zu vielen Gelegenheiten gemeinsam betrunken, wir hatten gelacht und gescherzt, aber vor allem hatten wir uns über Politik gestritten. Leo war ein Träumer, ein Idealist, ein Schwärmer, ein Revolutionär. Er konnte geistreich und enervierend sein, leidenschaftlich und unduldsam, kokett und großzügig – es gab unzählige Adjektive zur Beschreibung dieses außergewöhnlichen Menschen, und wenn Soja und ich uns von ihm verabschiedet hatten, kam es nicht selten vor, dass wir uns entweder ein bisschen in ihn verliebt hatten oder dass wir uns schworen, ihn niemals wiedersehen zu wollen. Leo war von allem erfüllt, was einen jungen Menschen umtreiben sollte: Poesie, Kunst, Ehrgeiz und Entschlossenheit. Doch er war kein Mörder. Er hatte keinen wie auch immer gearteten Hang zur Gewalttätigkeit.
»Aber das ist unmöglich«, sagte ich und starrte sie ungläubig an. »Das muss ein Missverständnis sein.«
»Es gibt Zeugen«, sagte sie, und dann setzte sie sich hin und vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Und zwar wohl jede Menge. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Nur dass man ihn auf der Polizeiwache festhält und vorerst nicht auf freien Fuß setzen wird.«
Ich stützte mich auf den Ladentisch und dachte eine Weile still über das Ganze nach. Es war tatsächlich kaum zu glauben. Schon die Vorstellung von körperlicher Gewalt bereitete mir Unbehagen, und ich war mir sicher, bei Leo verhielt es sich genauso. Er predigte ein Evangelium des Pazifismus und des gegenseitigen Verständnisses, auch wenn seine revolutionären Anschauungen ihn mitunter dazu verleiteten, von historischen Präzedenzfällen proletarischer Unerbittlichkeit zu schwärmen. Ich war mir sicher, dass ich derlei Dinge hinter mir gelassen hatte, an einem anderen Ort, in einem anderen Land.
»Erzähl mir, was geschehen ist«, sagte ich. »Erzähl mir alles, was du weißt.«
»Ich weiß nur sehr wenig«, erwiderte sie, und ihre stockende Stimme verriet mir, dass auch sie gehofft hatte, Ereignisse wie diese ein für alle Mal aus unserem Leben verbannt zu haben. »Es ist erst eine Stunde her. Sophie und ich waren wie üblich bei der Arbeit. Wir waren mit zwei Kleidern beschäftigt, die gegen Feierabend abgeholt werden sollten, und gerade dabei, einen Spitzenbesatz für den Kragen zusammenzunähen, als ein Mann in den Laden kam. Er war sehr groß und wirkte sehr ernst. Ich war beunruhigt, als ich ihn sah. Manchmal kommt einen ganzen Monat niemand bei uns vorbei. Ich schäme mich, aber als ich den Mann sah, den Ernst und die Entschlossenheit in seinen Augen, da dachte ich … also, ich dachte einen Moment lang …«
»Dass man uns entdeckt hat?«
Sie nickte. »Ich starrte ihn überrascht an, und dann fragte ich ihn, ob ich ihm irgendwie helfen könne, doch er streckte einfach den Arm aus und deutete mit dem Finger auf mein Gesicht, so, als ob er eine Pistole auf mich richtete, und ich dachte, ich würde in Ohnmacht fallen.
›Sophie Tambleau?‹, fragte er mich, wobei er mir in die Augen schaute, doch ich bekam kein Wort heraus, so sehr nahm mich das Ganze mit. ›Sind Sie Sophie Tambleau?‹, wiederholte er, und bevor ich etwas sagen konnte, meldete Sophie sich zu Wort, eine Mischung aus Neugier und Besorgnis auf ihrem Gesicht.
›Ich bin Sophie Tambleau‹, sagte sie. ›Was kann ich für Sie tun?‹
›Nichts‹, erwiderte er. ›Ich soll Ihnen eine Nachricht überbringen, das ist alles.‹
›Eine Nachricht?‹, fragte sie, wobei sie kurz lachte und mich anschaute. Ich begann ebenfalls zu lächeln, vor Erleichterung, aber die Situation war dennoch sehr ungewöhnlich. Wer sollte uns wohl eine Nachricht zukommen lassen?
›Sind Sie die Frau, mit der ein gewisser Leo Raymer in eheähnlicher Gemeinschaft lebt?‹, fragte der Mann. Sophie zuckte mit den Achseln. Seine Formulierung war natürlich lächerlich, aber sie nickte und sagte, ja, sie sei diese Frau. ›Monsieur Raymer befindet sich auf der Polizeiwache in der Rue de Clignancourt. Er ist verhaftet
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