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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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begonnen hatte, auf eine so dramatische Weise enden konnte. »Er ist früh aufgebrochen, weil er hoffte, dann einen guten Platz für seine Staffelei zu ergattern. Bei diesem scheußlichen Wetter haben Porträtmaler nichts zu lachen. Die meisten Leute wollen nicht in einer zugigen Straße dreißig Minuten auf einem Stuhl sitzen, um sich malen zu lassen. Er ging zur Sacré-Cœur, denn dort sind immer jede Menge Touristen. In letzter Zeit sind wir etwas knapp bei Kasse gewesen«, gab sie zu. »Nicht so, dass wir uns hätten Sorgen machen müssen, versteht ihr, aber wir konnten es uns nicht leisten, auf eine seiner Tageseinnahmen zu verzichten. Es ist nicht leicht.«
    »Es ist für keinen leicht«, sagte ich leise. »Aber wir hätten euch unter die Arme gegriffen, wenn ihr uns gefragt hättet, das weißt du doch, oder?« Das hätte ich eigentlich nicht sagen dürfen. Hätten Leo und Sophie uns tatsächlich um Hilfe gebeten, so wären wir dazu nicht in der Lage gewesen. Etwas anderes zu behaupten, war eine unverzeihliche Arroganz. Soja wusste das und warf mir einen verstohlenen Blick zu, wobei sie ein wenig die Stirn runzelte, und ich senkte den Kopf, peinlich berührt von meinem großspurigen Gehabe.
    »Es ist nett, dass du das sagst, Georgi«, erwiderte Sophie, die wahrscheinlich sehr gut wusste, dass unsere finanzielle Situation in etwa der ihrigen entsprach. »Aber wir waren noch nicht an dem Punkt angelangt, wo wir die Hilfe unserer Freunde benötigt hätten.«
    »Leo«, sagte Soja sanft und beugte sich vor, um ihre Hand flach auf die von Sophie zu legen. »Erzähl uns von Leo.«
    »An der Sacré-Cœur waren mehr Leute, als er erwartet hatte«, fuhr sie fort. »Und es waren auch schon etliche Künstler da, die ihre Staffeleien aufgebaut hatten, und alle versuchten, einen Touristen dazu zu bewegen, sich von ihnen porträtieren zu lassen. Und da war eine alte Dame, die auf dem Rasen saß und die Vögel fütterte …«
    »Bei diesem Wetter?«, fragte ich überrascht. »Hatte die keine Angst, zu erfrieren?«
    »Du weißt doch, wie zäh diese alten Schachteln sind«, erwiderte sie mit einem Achselzucken. »Die sitzen immer da, im Sommer wie im Winter, bei Regen und bei Sonnenschein. Das Wetter ist denen völlig egal.«
    Das stimmte. Mir war schon des Öfteren aufgefallen, dass viele ältere Pariser ihre Vor- und Nachmittage damit verbrachten, auf dem grasbedeckten Hang vor der Basilika zu sitzen und ihren gefiederten Lieblingen Brosamen hinzustreuen. Offenbar glaubten sie, die Vogelwelt sei ohne ihre Hilfe zum Aussterben verurteilt. Knapp drei Wochen zuvor hatte ich einen etwa achtzigjährigen Mann beobachtet, einen hutzeligen Greis mit einem Gesicht voller Runzeln und Falten, der mit weit ausgestreckten Armen dasaß, auf denen sich eine ganze Schar Vögel niedergelassen hatte. Ich beobachtete ihn fast eine Stunde lang, und während der ganzen Zeit rührte er sich nicht – wären seine Arme nicht ausgestreckt gewesen, hätte man ihn für tot halten können.
    »Dann tauchte ein weiterer Künstler auf«, fuhr Sophie fort, »jemand, der noch neu in Paris war, jemand, den Leo nicht kannte, und dieser Kerl wollte sich genau da hinsetzen, wo die alte Frau saß. Er bat sie, Platz zu machen, aber sie sagte Nein. Er erklärte ihr, er wolle dort malen, und sie erwiderte, er solle lieber nach Hause gehen und seinen Kopf unter den Wasserhahn halten. Es fielen ein paar heftige Worte, und dann zerrte der Mann die Frau auf die Beine, um sie von ihrem rechtmäßigen Platz wegzuheben. Er ignorierte ihr Protestgeschrei.«
    »Woher stammte der Mann?«, wollte Soja wissen, und ich schaute sie verdutzt an, denn ich wusste zunächst nicht, was sie mit dieser Frage bezweckte. Vermutlich hoffte sie, dass er kein Landsmann von uns beiden war.
    »Aus Spanien, glaubt Leo«, erwiderte sie. »Oder aus Portugal. Aber wie dem auch sei, Leo bekam mit, was da vor sich ging, und ihr wisst ja, wie er ist – ein so flegelhaftes Benehmen geht ihm gegen den Strich.«
    Das stimmte. Leo war dafür bekannt, dass er auf der Straße vor älteren Frauen an die Mütze tippte, und er bezauberte sie mit seinem breiten Lächeln und seinen höflichen Umgangsformen. Im Café rückte er ihnen den Stuhl zurecht, und er half ihnen mit ihren Einkaufstaschen, wenn sie in dieselbe Richtung gingen wie er. Er betrachtete sich als einen Repräsentanten des uralten Ordens der Ritterlichkeit, als einen der letzten Männer im Paris der zwanziger Jahre, die dieser ehrwürdigen

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