Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
den Tisch und erhob mich.
Soja und ich nahmen Sophie mit zu uns in die Wohnung, wo wir ihr zwei Schnapsgläser voll Weinbrand einflößten und sie dann in unser Schlafzimmer schickten, damit sie sich ein wenig ausruhen konnte. Sie ging ohne Protest und fiel auf der Stelle in einen unruhigen Schlaf.
»Er darf nicht ins Gefängnis kommen«, sagte Soja, als wir zwei schließlich allein waren. Wir saßen an unserem kleinen Küchentisch und überlegten angestrengt, wie wir den beiden helfen könnten. »Das ist undenkbar. Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihn davor zu bewahren.«
Ich nickte, sagte aber nichts. Natürlich machte ich mir Sorgen um Leo, doch was mich beunruhigte, war nicht die Aussicht, dass man ihn zu einer Gefängnisstrafe verurteilen könnte. Es war etwas Schlimmeres als das. Schließlich hatte er den Tod eines Angehörigen der französischen Polizei verschuldet. Unfall hin, Unfall her, so etwas wurde nicht auf die leichte Schulter genommen. Die Bestrafung könnte wesentlich drakonischer ausfallen, als meine Frau oder Leos Lebensgefährtin es sich derzeit vorstellen mochten.
Drei Wochen später, in der zweiten Dezemberwoche, machte man Leo Raymer den Prozess. Er dauerte anderthalb Tage – er begann an einem Dienstagmorgen, und schon am Mittwochnachmittag waren die Geschworenen zu einem Urteil gelangt.
Sophie war nach dem Vorfall noch einige Tage in unserer Wohnung geblieben, doch dann kehrte sie zu sich nach Hause zurück, denn sie fand, es ergab keinen Sinn, auf unserer Couch zu schlafen und uns jeden Abend im Wege zu sein, wenn ihr nur vier Straßen von uns entfernt ein durchaus gutes, wenn auch einsames Bett zur Verfügung stand. Wir ließen sie ohne großen Protest gehen, verbrachten aber trotzdem jeden Abend mit ihr, entweder in ihrer Wohnung oder in unserer oder, wenn wir es uns leisten konnten, in einem der Cafés, von denen es in unserer Nachbarschaft nur so wimmelte.
Anfangs schien sie wegen der Ereignisse um Leo in eine Hysterie abzugleiten; dann fasste sie Mut und nahm sich vor, alles Menschenmögliche zu tun, um Leos Freilassung zu erwirken. Kurz darauf wurde sie erst depressiv und dann wütend auf ihren Freund, der sich diese Suppe eingebrockt hatte. Als der Prozess begann, war sie emotional erschöpft, und der Schlafmangel hatte ihr dunkle Ringe unter den Augen beschert. Ich begann mir Sorgen zu machen, weil ich nicht wusste, wie sie reagieren würde, wenn der Prozess keinen glücklichen Ausgang nahm.
Ich bat Monsieur Ferré darum, mir an dem Dienstag, an dem der Prozess begann, freizugeben, und schien leider einen ungünstigen Moment erwischt zu haben, denn er knallte seinen Füllfederhalter mit einer solchen Wucht auf die Schreibtischplatte, dass eine Ladung Tinte in meine Richtung spritzte und mich zurückzucken ließ, während er mich anstarrte und schwer durch die Nase atmete.
»Einen Tag frei? Mitten in der Woche, Jatschmenew?«, fragte er mich. » Schon wieder einen Tag frei? Ich dachte, wir beide hätten eine Abmachung getroffen.«
»Ja, haben wir, Monsieur Ferré«, erwiderte ich kleinlaut, denn eine dermaßen heftige Reaktion auf mein schlichtes Ansuchen hatte ich nicht erwartet. Seitdem er mich gemaßregelt hatte, war ich ein Musterangestellter gewesen, und ich war davon ausgegangen, dass er mir anstandslos einen Tag freigeben würde. »Entschuldigung, dass ich danach gefragt habe, aber …«
»Ihre Frau muss lernen, dass sich die Welt nicht um …«
»Diesmal hat es nichts mit meiner Frau zu tun, Monsieur Ferré«, sagte ich rasch, erbost darüber, dass er es sich herausnahm, Soja zu kritisieren. »Es hat nichts mit dem zu tun, was vor ein paar Monaten geschehen ist. Ich glaube, ich habe Ihnen von meinem Freund erzählt, oder? Von Monsieur Raymer?«
»Ach, der Mörder«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln. »Ja, ich erinnere mich. Und natürlich habe ich über den Fall in der Zeitung gelesen.«
»Leo ist kein Mörder«, erwiderte ich. »Es war ein schrecklicher Unfall.«
»Bei dem ein Mann zu Tode gekommen ist.«
»Ja, aber nur aus Versehen.«
»Und nicht irgendein Mann, sondern einer, dessen Aufgabe es war, die Bürger zu beschützen. Ich schätze, Ihr Freund kann nicht mit einem milden Urteil oder gar einem Freispruch rechnen. Die öffentliche Meinung ist gegen ihn.«
Ich nickte und versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten; er wiederholte nur, was ich bereits wusste. »Bekomme ich den Tag nun frei oder nicht?«, fragte ich, wobei ich
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