Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
aufschaute und ihm direkt in die Augen sah und ihn so lange fixierte, bis er meinem Blick nicht mehr standhielt und seine Hände kapitulierend in die Luft warf.
»Na gut«, sagte er, »Sie bekommen einen Tag Urlaub. Unbezahlt, versteht sich. Und sollten Reporter im Gerichtsgebäude herumlungern, was zweifellos der Fall sein dürfte, so erzählen Sie denen ja nicht, dass Sie hier arbeiten. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass meine Buchhandlung mit einer so schlimmen Sache in Verbindung gebracht wird.«
Ich erklärte mich damit einverstanden, und am Morgen des ersten Prozesstages begleitete ich Soja und Sophie in den Gerichtssaal. Als wir auf der Galerie Platz nahmen, spürten wir, wie sich alle Augen auf uns richteten. Ich merkte, wie unbehaglich Soja sich dabei fühlte, griff nach ihrer Hand und drückte diese zweimal – eine Geste, die Glück bringen sollte.
»Das gefällt mir nicht«, sagte sie leise. »Beim Reingehen hat mich ein Reporter gefragt, wer ich sei.«
»Denen musst du gar nichts sagen«, erwiderte ich. »Keiner von uns muss das. Und denk daran, wir sind denen nicht so wichtig. Die interessieren sich nur für Sophie.«
Ich wusste, diese Bemerkung war gefühllos, doch es war die Wahrheit, und ich wollte meiner Frau klarmachen, dass wir nichts zu befürchten hatten, dass wir sicher waren. Wenn sie es glaubte, dann glaubte ich es vielleicht auch.
Der Gerichtssaal war mit Schaulustigen gefüllt, und es dauerte nicht lange, bis ein Raunen durch die Bankreihen ging, denn nun öffnete sich die Tür, und Leo wurde hereingeführt, flankiert von mehreren Gendarmen. Er ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, um uns ausfindig zu machen. Als er uns entdeckte, zeigte er ein tapferes Lächeln, mit dem, da war ich mir sicher, er die Angst kaschierte, die er tief in seinem Innern empfand. Er sah blasser und dünner aus als bei unserer letzten Begegnung. An jenem Abend, am Vorabend seiner Auseinandersetzung mit dem Polizisten, hatten wir beide in einer Bar gesessen und zu viel Rotwein getrunken, und Leo hatte mir anvertraut, dass er Sophie am ersten Weihnachtsfeiertag einen Heiratsantrag machen wollte – etwas, das sie noch immer nicht wusste. Während der Verlesung der Anklageschrift wirkte er dennoch gefasst und schaute ungerührt geradeaus, und als er auf »nicht schuldig« plädierte, tat er dies mit fester Stimme.
Der Vormittag verging mit einem langweiligen juristischen Palaver zwischen dem Richter, dem Staatsanwalt und dem Pflichtverteidiger, der unseren Freund vertrat. Am Nachmittag kam jedoch Leben in die Sache, denn nun wurden etliche Personen in den Zeugenstand gerufen, darunter auch die ältere Frau, die der Spanier zu vertreiben versucht hatte – sie sang natürlich ein Loblied auf Leo und machte den Gendarmen für den Unfall verantwortlich –, sowie der Spanier selbst, der in seiner Missbilligung von Leo unnötig hart war, vielleicht aus verletztem Stolz. Es wurden noch weitere Zeugen vernommen, die sich zur Zeit des Vorfalls auf den Stufen zur Sacré-Cœur aufgehalten und den Ermittlungsbeamten ihre Namen genannt hatten. Eine Dame, die nur wenige Zentimeter von dem Polizisten entfernt gewesen war, als dieser mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Der Arzt, der ihn als Erster untersucht hatte. Der Leichenbeschauer.
»Es lief doch nicht schlecht, oder?«, fragte Sophie mich an jenem Abend, und ich nickte, obwohl ich anderer Meinung war. Aber eine kleine Aufmunterung würde ihr sicher guttun.
»Einige Zeugenaussagen waren schon hilfreich«, räumte ich ein – und verkniff es mir hinzuzufügen, dass die Mehrzahl der Zeugen Leos Verhalten als unbeherrscht und aggressiv beschrieben hatte und der Ansicht gewesen war, seine Hitzköpfigkeit habe zum Tod eines ehrbaren und unschuldigen jungen Mannes geführt.
»Morgen wird alles gut ausgehen«, sagte Soja, als sie Sophie zum Abschied umarmte. »Dessen bin ich mir sicher.«
Später stritten wir uns – es war das allererste Mal, dass Soja und ich einander anschrien. Obwohl ich sie am nächsten Tag ins Gerichtsgebäude begleiten wollte, erwähnte ich dummerweise, dass Monsieur Ferré es mir wahrscheinlich verübeln würde, wenn ich mir auch noch einen zweiten Tag freinahm. Sophie missdeutete meine Sorge um unsere Zukunft als Selbstsüchtigkeit und als Desinteresse an unseren Freunden, ein Vorwurf, der mich aufregte und verletzte.
Später, nachdem wir uns wieder vertragen hatten und zu Bett gegangen waren – es ist merkwürdig, sich daran zu
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