Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
erinnern, aber wir hatten beide Tränen vergossen, so wenig waren wir es gewohnt, uns zu streiten –, erklärte ich Soja, sie solle sich darauf gefasst machen, dass der Prozess anders ausgehen könne, als wir es uns wünschten.
Sie erwiderte nichts, sondern drehte sich einfach von mir weg, um zu schlafen. Ich wusste, sie war nicht so naiv, um die Wahrheit meiner Worte zu bezweifeln.
Am nächsten Tag saßen wir wieder auf denselben Plätzen, und diesmal war der Gerichtssaal bis zum Bersten gefüllt, denn jeder wollte Leos Aussage hören. Er begann nervös, doch es dauerte nicht lange, bis er seine gewohnte Selbstsicherheit wiedergewonnen hatte und eine so bemerkenswerte oratorische Leistung bot, dass ich mich einen Moment lang fragte, ob er seinen Kopf nicht doch noch aus der Schlinge ziehen konnte. Er stellte sich als einen Volkshelden dar, als einen jungen Mann, der nicht tatenlos zuschauen konnte, wenn eine ältere Frau – eine ältere französische Frau, wie er hervorhob – von jemandem beleidigt und misshandelt wurde, der in seinem Land zu Gast war. Er sprach davon, wie sehr er die Arbeit der Gendarmen zu schätzen wisse, und er sagte, dass er gesehen habe, wie der junge Mann das Gleichgewicht verloren habe, und dass er die Hand nach ihm ausgestreckt habe, um ihn festzuhalten, nicht um ihn zu schubsen, doch es sei zu spät gewesen. Er war bereits gestürzt. Als er sprach, war es im Gerichtssaal mucksmäuschenstill. Beim Verlassen des Zeugenstands schaute er zu Sophie, die ihn ihrerseits besorgt anlächelte; er lächelte zurück, bevor er wieder zwischen den beiden Polizisten Platz nahm, die ihn bewachten.
Der letzte Zeuge war jedoch die Mutter des jungen Gendarmen, die dem Gericht schilderte, was ihr Sohn an jenem Morgen gemacht hatte, und die ihn – vielleicht sogar zu Recht – als einen veritablen Heiligen darstellte. Sie sprach voller Stolz und Würde, wobei ihr nur einmal die Tränen kamen, und als sie am Ende ihrer Aussage angelangt war, wusste ich, dass kaum noch Hoffnung bestand.
Die Geschworenen kehrten eine Stunde später zurück. Sie befanden Leo des Mordes schuldig. Während im Gerichtssaal spontaner Applaus aufbrandete, sprang Sophie von ihrem Sitz und fiel in Ohnmacht, sodass Soja und ich sie in den Flur hinaustragen mussten.
»Das kann nicht sein, das kann nicht sein«, stammelte sie benommen, als sie auf einer der kalten Steinbänke, die die Außenmauern säumten, das Bewusstsein wiedererlangte. »Er ist unschuldig. Sie dürfen ihn mir nicht wegnehmen.«
Soja weinte nun ebenfalls, und die beiden Frauen umarmten einander, wobei sie heftig zitterten. Ich spürte, wie auch mir die Tränen in die Augen stiegen. Das war alles zu viel für mich. Ich stand auf, denn ich wollte nicht, dass die beiden sahen, wie ich die Selbstbeherrschung verlor.
»Ich geh wieder rein«, sagte ich schnell und kehrte den beiden den Rücken. »Ich will wissen, was jetzt passiert.«
Bei meiner Rückkehr in den Gerichtssaal musste ich mich durch die Menge hindurchdrängeln, bis ich einen Platz gefunden hatte, von dem aus ich verfolgen konnte, was vor sich ging. Leo stand da, käseweiß, an jeder Seite einen Gendarmen. Er sah so aus, als könnte er nicht fassen, was gerade passierte, als erwartete er, jeden Moment auf freien Fuß gesetzt zu werden, mit Entschuldigungen seitens des Gerichts. Doch diese Erwartung sollte sich nicht erfüllen.
Der Richter schlug mit seinem Hammer auf den Tisch, erbat sich Ruhe im Saal und begann, das Urteil zu verlesen.
Als ich ein paar Augenblicke später den Gerichtssaal wieder verließ, hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich eilte nach draußen, um möglichst viel frische Luft in meine Lungen zu pumpen, und während ich dies tat, begriff ich mit einem Mal die ganze Entsetzlichkeit dessen, was ich gerade gehört hatte. Ich musste mich mit einer Hand an der Mauer abstützen, damit ich nicht den Halt verlor und in aller Öffentlichkeit zusammenklappte.
Soja und Sophie, die nur zwei oder drei Meter von mir entfernt waren, drehten sich um und hörten für einen Augenblick auf zu weinen, um mich verständnislos anzustarren.
»Was ist denn?«, fragte Sophie, als sie auf mich zulief. »Los, Georgi, sag es mir! Was ist passiert?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte ich.
»Los, sag es mir!«, wiederholte sie, wobei sie nun schrie. »Sag es mir, Georgi!« Sie ohrfeigte mich, einmal, zweimal, dreimal, mit aller Kraft. Und dann ballte sie ihre Hände zu
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