Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
weiterhin mit seinem Titel anzureden, und klopfte erneut an die Tür. »Euer Majestät, kann ich Euch irgendwie zu Diensten sein?«
Da ich auch diesmal keine Reaktion vernahm, öffnete ich die Tür und fand den Raum genauso verlassen vor wie kurz zuvor mein Schlafquartier. Ich runzelte die Stirn und fragte mich, wo der Zar wohl sein mochte – er vergrub sich jeden Vormittag in seinem privaten Arbeitszimmer, um seinen Papierkram zu erledigen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich daran etwas geändert hatte, selbst unter den neuen Umständen nicht, die seit dem gestrigen Tag herrschten. Schließlich mussten nach wie vor Briefe geschrieben, Papiere unterzeichnet und Entscheidungen gefällt werden. Es war nun noch wichtiger als zuvor, dass er sich um seine Angelegenheiten kümmerte. Nachdem ich einen Blick zurück in den Gang geworfen hatte, um mich zu vergewissern, dass sich dort niemand näherte, begab ich mich zum Schreibtisch des Zaren und durchblätterte schnell die Papiere, die dort liegen geblieben waren. Es handelte sich um komplizierte politische Dokumente, die mir nichts sagten. Frustriert wandte ich mich ab und bemerkte, dass das Foto der Zarenfamilie, das immer auf dem Schreibtisch gestanden hatte, aus seinem silbernen Rahmen entfernt worden war. Ich starrte den leeren Bilderrahmen einen Moment lang an, nahm ihn und betrachtete ihn von allen Seiten, als könnte er mir irgendwelche Hinweise auf den Aufenthaltsort des Zaren liefern, stellte ihn aber wenig später wieder zurück und beschloss, unverzüglich auszusteigen.
Der Zug hatte sich seit der letzten Nacht nicht bewegt. Als ich hinabsprang, knirschten meine Stiefel laut auf dem Schotter neben den Bahnschwellen. Etwas weiter vorn konnte ich Peter Iljitsch Maksi erkennen, einen anderen Leibgardisten, der schon zum Gefolge des Zaren gehört hatte, als ich in St. Petersburg eingetroffen war. Wir waren nie gut miteinander ausgekommen, und für gewöhnlich machte ich einen Bogen um ihn. Als einem ehemaligen Mitglied des Pagenkorps war ihm meine Anwesenheit bei Hofe ein Dorn im Auge, und es hatte ihn besonders gewurmt, als man mich meiner, wie er es nannte, »Babysitter«-Pflichten gegenüber dem Zarewitsch entbunden und hierher mitgenommen hatte, sodass ich nun ebenfalls zum unmittelbaren Gefolge des Zaren gehörte. Da er aber der einzige Mensch weit und breit zu sein schien, blieb mir keine andere Wahl, als mich an ihn zu wenden.
»Peter Iljitsch«, sagte ich und ging auf ihn zu, wobei ich versuchte, mich nicht von der griesgrämigen Miene einschüchtern zu lassen, mit der er mich musterte, als wäre ich ein lästiges Ärgernis, das ihm den Morgen verdarb. Er kaute lange auf dem Mundstück seiner Zigarette herum, bevor er sich einen letzten Zug genehmigte und sie dann auf den Boden warf, wo er sie mit dem Stiefelabsatz zertrat.
»Mein Freund«, sagte er und nickte mir zu – seine Stimme triefte vor Sarkasmus. »Guten Morgen.«
»Was ist hier los?«, fragte ich. »Wo sind die anderen? Der Zug ist ja völlig leer.«
»Die sind alle da vorne«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung des ersten Waggons. »Jedenfalls alle, die noch übrig geblieben sind.«
»Übrig geblieben?«, fragte ich und zog eine Augenbraue hoch. »Was meinst du damit?«
»Hast du nichts mitbekommen?«, fragte er mich. »Du weißt nicht, was sich letzte Nacht zugetragen hat?«
Ich spürte, wie eine panische Angst in mir emporstieg, doch ich wollte mir nicht ausmalen, was er meinte. »Sag es mir einfach, Peter«, bat ich ihn. »Wo ist der Zar?«
»Es gibt keinen Zaren mehr«, sagte er mit einem Achselzucken, als wäre dies die selbstverständlichste Sache der Welt. »Er ist gegangen. Wir sind ihn endlich los.«
»Gegangen?«, fragte ich. »Aber wohin ist er gegangen? Du meinst doch nicht etwa …«
»Er hat abgedankt.«
»Das weiß ich bereits«, blaffte ich ihn an. »Aber wohin …«
»Sie haben einen Zug für ihn kommen lassen, mitten in der Nacht.«
»Wer hat einen Zug kommen lassen?«
»Unsere neue Regierung. Erzähl mir nicht, du hast das alles verpennt! Dann ist dir nämlich ein tolles Spektakel entgangen!«
Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich dies hörte – er war also noch am Leben, und dies bedeutete, dass seiner Familie vermutlich auch kein Haar gekrümmt worden war –, doch auf meine Erleichterung folgte sogleich der dringende Wunsch zu erfahren, wo man sie hingebracht hatte.
»Was kümmert dich das überhaupt?«, fragte mich Peter, wobei er die
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