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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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ein jungvermähltes Ehepaar. Ich nahm Soja bei der Hand und führte sie ins Schlafzimmer.
    Hinterher schmiegte ich mich eng an sie, und als wir zu schlafen versuchten, nicht gewöhnt an die Wärme und die Glätte zweier nackter, unter rauen Bettdecken ineinander verschlungener Körper, da schloss ich die Augen und strich mit den Fingern über ihre Beine und ihren wohlgeformten Rücken, über ihren ganzen Körper, wobei ich nichts sagte und auch nicht darauf achtete, wie sie in meinen Armen schluchzte und ihr eigenes Zittern zu bekämpfen versuchte, während sie den Tag und die Hochzeit noch einmal Revue passieren ließ und dabei an diejenigen dachte, die nicht zugegen gewesen waren.

Das Ipatjew-Haus
    Aus der Nähe wirkte das Ipatjew-Haus nicht besonders bedrohlich.
    Ich betrachtete es von meinem Versteck aus, einer gut getarnten Stelle am Rand des nahezu undurchdringlichen Waldes, der an das Haus des Kaufmanns angrenzte, und versuchte mir vorzustellen, was sich in seinem Innern abspielen mochte. Eine Gruppe von Lärchen bot mir einen idealen Beobachtungsposten; ihre überhängenden Zweige und dicht beieinanderstehenden Stämme gewährten sogar einen leidlichen Schutz gegen die Kälte, dennoch bedauerte ich es, dass ich keinen gefütterten Mantel dabeihatte oder die dicken Wollhandschuhe, die Graf Tscharnetzki mir in meiner ersten Woche in St. Petersburg gegeben hatte. Vor mir befand sich eine kleine mit Gras bewachsene Lichtung, wo ich mich hinlegen und ausruhen konnte, wenn mir die Beine zu müde wurden, und ein Stück weiter vorn verlief eine mehrere Meter lange dichte Hecke, die zu einer mit Kies bestreuten, parallel zur Vorderseite des Hauses verlaufenden Zufahrt führte.
    Irgendwo da drüben, sagte ich mir, waren die Mitglieder der kaiserlichen Familie versammelt, als Gefangene der bolschewistischen Regierung – irgendwo da drüben war Anastasia.
    Ein Dutzend Soldaten kamen und gingen im Verlauf des Nachmittags. Sie lümmelten sich gegen die Hauswände und rauchten, schwatzten und lachten, wobei sie kleine Grüppchen bildeten. Einer von ihnen holte doch tatsächlich einen Fußball hervor, und nachdem sie zwei Mannschaften gebildet hatten, lieferten sie sich mit hochgekrempelten Ärmeln ein etwa halbstündiges Match, bei dem das Zufahrtstor das eine Paar Pfosten bildete und die gegenüberliegende Hauswand das andere. Fast alle waren junge Männer in den Mitzwanzigern, doch ihr Anführer, der hin und wieder auftauchte, um ihnen den Spaß zu verderben, war ein Mann in den Fünfzigern, ein kleiner, muskulöser Bursche mit zusammengekniffenen Augen und einem aggressiven Gebaren. Ihren Uniformen zufolge waren sie Bolschewiki. Aber sie versahen ihren Dienst ziemlich nachlässig, so als sei ihnen der erhabene Rang ihrer Gefangenen vollkommen gleichgültig. Seit der Abdankung des Zaren hatten sich die Zeiten erheblich geändert. Während meiner sechzehnmonatigen Odyssee von dem Eisenbahnwaggon in Pskow zum Haus zur besonderen Verwendung in Jekaterinburg war mir zunehmend aufgefallen, dass die Leute der Zarenfamilie nicht mehr den Respekt und die Hochachtung zollten, die sie ihr früher entgegengebracht hatten. Die Leute wetteiferten stattdessen darum, wer sich die obszönste Beleidigung einfallen ließ, und sie verfluchten in aller Öffentlichkeit den Mann, den sie einmal für ihren von Gott höchstselbst auserwählten Herrscher gehalten hatten. Natürlich hatte niemand von ihnen den Zaren persönlich kennengelernt – wäre dies der Fall gewesen, so hätten sie ihn vielleicht mit anderen Augen gesehen.
    Was mich jedoch am meisten überraschte, war das Fehlen jeglicher Sicherheitsmaßnahmen. Ein- oder zweimal wagte ich mich aus meinem Versteck heraus und wanderte die Straße entlang, wobei ich an dem geöffneten Zufahrtstor vorbeikam und jeden Blickkontakt mit den dort postierten Soldaten vermied, die aber kaum Notiz von mir nahmen. Für sie war ich bloß ein Junge, ein verarmter Muschik, der ihre Zeit nicht wert war. Das Zufahrtstor blieb den ganzen Tag über geöffnet; ich sah mehrmals ein Automobil vor dem Haus vor- und wieder wegfahren. Die Vordertür wurde nie geschlossen, und durch die breiten Fenster eines im Erdgeschoss liegenden Salons konnte ich die Wachen sehen, wenn sie sich dort zum Essenfassen versammelten. Angesichts dieser laxen Beaufsichtigung fragte ich mich, warum die Zarenfamilie nicht einfach die Treppe hinunter- und in die nahe gelegene Stadt spazierte. Als ich am Spätnachmittag meines ersten

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