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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Beobachtungstages meine Augen auf eines der Fenster im oberen Stockwerk richtete, tauchte dort plötzlich eine Gestalt auf, um die Vorhänge zu schließen, und ich wusste sofort, dass dies die Silhouette von niemand anderem war als der Zarin persönlich, der Kaiserin Alexandra Fjodorowna. Ungeachtet unserer oftmals angespannten Beziehung schlug mir das Herz bis zum Hals, als ich sie dort oben erblickte, denn dies war der Beweis – falls es eines Beweises bedurft hätte –, dass meine Reise nicht umsonst gewesen war und ich die Zarenfamilie tatsächlich gefunden hatte.
    Als die Nacht hereinbrach und ich in die Stadt zurückkehren wollte, um mir einen wärmeren Schlafplatz zu suchen, kam plötzlich ein kleiner Hund durch die Vordertür geschossen, und gleich darauf konnte ich laute Stimmen vernehmen, die eines Mädchens und die eines Mannes, die sich in der Dunkelheit hinter dem eichenen Balkenwerk des Hauses stritten. Einen Augenblick später trat das Mädchen auf die Zufahrt hinaus, wo es mit einem verärgerten Gesichtsausdruck abwechselnd nach rechts und links schaute. Ich erkannte sie sofort: Es war Maria, die dritte der vier Zarentöchter. Sie rief nach dem Terrier der Zarin, der inzwischen das Grundstück verlassen, die Straße überquert und es sich in meinen Armen bequem gemacht hatte.
    Maria lief die Zufahrt hinunter und rief immer wieder den Namen des kleinen Hundes, was dieser mit einem Bellen quittierte. Daraufhin blickte sie in Richtung des Waldes und zögerte nur einen kurzen Moment, bevor sie die Straße überquerte und direkt auf mich zukam.
    »Eira, wo bist du?«, rief sie, immer näher kommend, bis sie in der Finsternis des Waldes nur noch ein oder zwei Schritte von mir entfernt war. Sie schien zu spüren, dass sie nicht allein war, denn ihr Tonfall wurde nun nervöser. »Bist du hier irgendwo?«, fragte sie zaghaft.
    »Ja«, sagte ich, und dann streckte ich eine Hand nach ihr aus, packte sie am Arm und zerrte sie mit einem Ruck in die Büsche, wo sie direkt auf mich fiel. Sie war zu verdutzt, um laut aufzuschreien, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, presste ich ihr meine Hand auf den Mund und hielt ihren Körper fest umklammert, während sie sich aus meinem Griff zu befreien versuchte. Der Hund fiel zu Boden, rappelte sich auf und kläffte uns beide an, doch als ich mich ihm zuwandte und ihn böse anfunkelte, hörte er sofort auf und begann, mit den Pfoten zu scharren und kläglich zu wimmern. Maria drehte ihren Kopf ein wenig, und ihre Augen öffneten sich weit, als sie die Person erblickte, die sie da festhielt – ich spürte, wie sich ihr Körper entspannte, als sie mich erkannte. Ich sagte ihr, sie solle aufhören, sich zu wehren, und nicht schreien, und falls sie mir dies verspräche, würde ich meine Hand von ihrem Mund entfernen. Sie nickte sofort, und daraufhin ließ ich sie los.
    »Ich bitte um Verzeihung, Euer Hoheit«, sagte ich schnell und verbeugte mich tief vor ihr, als sie einen Schritt zurücktrat, um sich davon zu überzeugen, dass ich ihr tatsächlich nichts antun wollte. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht wehgetan, aber ich konnte nicht riskieren, dass Ihr schreit und die Wachen auf uns aufmerksam macht.«
    »Du hast mir nicht wehgetan«, sagte sie, und dann wandte sie sich dem Hund zu und pfiff leise, damit er aufhörte zu winseln. »Du hast mich überrascht, das ist alles. Aber ich kann nicht glauben, wen ich hier vor mir sehe. Georgi Daniilowitsch, bist du es wirklich?«
    »Ja«, erwiderte ich und lächelte sie an, entzückt, mich wieder in ihrer Gesellschaft zu befinden. »Ja, Euer Hoheit, ich bin’s.«
    »Aber was tust du hier? Wie lange versteckst du dich hier schon?«
    »Es würde zu lange dauern, das zu erklären«, sagte ich und warf einen Blick in Richtung des Hauses, um mich zu vergewissern, dass man noch nicht nach ihr suchte. »Es ist schön, Euch wiederzusehen, Maria«, sagte ich und fragte mich zugleich, ob diese Bemerkung nicht zu vertraulich war, doch sie kam aus tiefstem Herzen. »Ich suche schon seit geraumer Zeit nach Eurer Familie.«
    »Ich finde es auch schön, dich wiederzusehen, Georgi«, sagte sie lächelnd, und ich glaubte zu sehen, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie war dünn geworden, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen hatte; ihr billiges Kleid war zu groß für sie und hing formlos an ihrem Körper herab. Und selbst im Schatten des Waldes konnte ich die dunklen, auf Schlafmangel deutenden Ringe unter ihren Augen erkennen. »Es ist wie

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