Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
aufknüpften«, erwiderte ich, ein grüner Junge, der die Stirn hatte, einen älteren Mann zu belehren.
»Ja, davor«, räumte er ein. »Aber wie viele unschuldige Menschen sind seinetwegen am ›Blutigen Sonntag‹ ums Leben gekommen? Tausend? Doppelt so viele? Viermal so viele?« Er schüttelte den Kopf, traurig und zugleich wütend. »Danach konnte ich nicht mehr dort bleiben. Er hätte befohlen, mich wegen meines Ungehorsams zu töten. Es erstaunt mich immer wieder, Georgi Daniilowitsch, dass diejenigen, die sich am meisten über ein autokratisches oder diktatorisches Regime empören, zu den Ersten gehören, die ihre Feinde gnadenlos eliminieren, sobald sie selber an die Macht gekommen sind.«
»Vater Gapon hat nie irgendwelche Macht erlangt«, wandte ich ein.
»Aber Lenin schon«, erwiderte er, wobei er mich anlächelte. »Der ist auch nur ein weiterer Zar, oder?«
Ich verschwieg Soja seine politischen Ansichten, obwohl sie diese geteilt hätte, aber ich hielt es für falsch, unseren Hochzeitstag mit solchen Erinnerungen zu belasten. Ich wollte ihr Vater Racklezki als einen weiteren Exilanten vorstellen, den der Vormarsch der Truppen des Kaisers aus seinem Heimatland vertrieben hatte. Ich hatte so lange gebraucht, um diesen Mann aufzutreiben, und wollte keine Probleme heraufbeschwören, die unsere Hochzeit womöglich noch weiter hinausgezögert hätten.
Die Trauung wurde in der Wohnung von Leo und Sophie vollzogen, an einem warmen Samstagabend im Oktober. Unsere Freunde hatten ihre Bleibe großzügigerweise für die Zeremonie zur Verfügung gestellt, und sie fungierten an jenem Tag auch als unsere Trauzeugen. Vater Racklezki verbrachte am Nachmittag eine Stunde allein in der Wohnung, um das Wohnzimmer zu einem heiligen Ort zu weihen, mittels einer Prozedur, die, wie er sagte, »ziemlich unorthodox, aber überaus angenehm sei«, eine Formulierung, die mich amüsierte.
Es betrübte mich, dass ich nicht in der Lage war, meiner Braut eine glanzvollere Hochzeit auszurichten, doch mehr konnten wir uns nicht leisten, ohne in finanzielle Kalamitäten zu geraten. Unsere Gehälter reichten gerade für Miete und Essen. Soja achtete außerdem darauf, dass wir jede Woche ein paar Francs zurücklegten, für den Fall, dass wir aus Paris flüchten müssten. Das Hochzeitskleid hatten Soja und Sophie peu à peu nach Feierabend in der Schneiderei genäht; Leo und ich trugen unsere besten Hemden und Hosen. Am Tag der Hochzeit fand ich jedoch, dass wir trotz unserer begrenzten Mittel einen würdigen Rahmen geschaffen hatten.
Vater Racklezki hatte Soja noch nicht kennengelernt, und als sie an jenem Abend bei mir eingehakt das Wohnzimmer betrat, war ihr Gesicht mit einem schlichten Schleier bedeckt, der ihre Schönheit und ihren Liebreiz verbarg. Er strahlte uns glücklich an, als wären wir seine Kinder oder ein Lieblingsneffe und eine Lieblingsnichte, und es war nicht zu übersehen, wie sehr er sich darüber freute, wieder einmal eine Trauung zu vollziehen. Sophie und Leo flankierten uns, entzückt, an dieser ungewöhnlichen Erfahrung teilhaben zu dürfen. Ich glaube, es kam ihnen schrecklich modern und unkonventionell vor, auf diese Weise und an einem solchen Ort zu heiraten – und vielleicht auch romantisch.
Wir tauschten schlichte Ringe aus, und dann nahm ich Sojas linke Hand in meine rechte, bevor wir mit unseren freien Händen brennende Kerzen entgegennahmen, die wir in die Höhe hoben, während der Priester über unseren Köpfen die Anrufungen intonierte. Auf sein Zeichen hin fassten Sophie und Leo nach den Tischen an ihrer Seite, griffen sich die dort abgestellten kleinen, schlichten Kronen, die Soja aus Stanniolpapier und Filz gebastelt hatte, und setzten sie dann gleichzeitig auf unsere Köpfe.
»Gottes Diener Georgi Daniilowitsch Jatschmenew und Soja Fjodorowna Danitschenko«, sang der Priester, wobei er seine Hände in einem Abstand von etwa zehn Zentimetern über unsere Köpfe hielt, »werden hiermit gekrönt im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Mich durchfuhr eine Woge unfassbaren Glücks, als er diese Worte sprach, und ich umklammerte Sojas Hand noch fester – ich konnte es kaum fassen, dass wir nun endlich vereint waren.
Danach wurde aus dem Evangelium gelesen, und wir tranken aus dem Messkelch, wobei wir uns versprachen, fortan alles im Leben zu teilen und in Freud und Leid zusammenzuhalten, bis dass der Tod uns scheidet. Als wir unsere Gelübde abgelegt hatten, führte Vater
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