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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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ein wunderbarer Blick in die Vergangenheit. Manchmal glaube ich, ich habe mir jene Zeiten bloß eingebildet. Aber hier bist du, in Fleisch und Blut. Du hast uns gefunden.« Ihre Rührung war offensichtlich. Ohne Vorwarnung warf sie mir ihre Arme um den Hals und drückte sich an mich, eine rein freundschaftliche Geste, die ich aber dennoch zu schätzen wusste.
    »Geht es Euch gut?«, fragte ich, löste mich aus ihrer Umarmung und lächelte genauso breit wie sie, tief bewegt von der Herzlichkeit unseres Wiedersehens. »Hat man Euch wehgetan? Wie geht es Eurer Familie?«
    »Du meinst wohl, wie es meiner Schwester geht?«, fragte sie lächelnd. »Wie es Anastasia geht?«
    »Ja«, erwiderte ich, wobei ich ein wenig errötete, davon überrascht, dass ich so leicht zu durchschauen war. »Du weißt es also?«
    »Oh ja, sie hat es mir schon vor Langem erzählt. Aber keine Sorge, ich habe es für mich behalten. Nach dem, was damals mit Sergei Stasjewitsch passiert ist …« Sie schaute abrupt auf, und ihre Augen wanderten in der Dunkelheit umher. »Ist er auch hier?«, fragte sie, in einem Tonfall voller Aufgeregtheit und Hoffnung. »Bitte sag mir, dass du ihn mitgebracht hast und …«
    »Tut mir leid«, unterbrach ich sie. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Nicht mehr seit dem Tag, an dem er St. Petersburg verließ.«
    »Du meinst den Tag, an dem er weggeschickt wurde.«
    »Ja, seit jenem Tag. Hat er dir nicht geschrieben?«
    »Falls er es hat, sind mir seine Briefe vorenthalten worden«, sagte sie mit einem Kopfschütteln. »Ich bete jeden Tag darum, dass es ihm gut geht und dass er mich finden wird. Ich stelle mir vor, dass er mich ebenfalls sucht. Aber ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich hier bist, mein lieber alter Freund. Nur … wo du nun hier bist … also, was genau hast du vor?«
    »Ich möchte Anastasia sehen«, sagte ich. »Ich möchte alles tun, was in meiner Macht steht, um Eurer Familie zu helfen.«
    »Es gibt nichts, was du tun könntest. Niemand kann etwas tun.«
    »Aber das verstehe ich nicht, Euer Hoheit. Ihr seid gerade aus dem Haus spaziert, einfach so, und die Soldaten haben Euch nicht verfolgt. Kümmert es sie überhaupt, ob Ihr hierbleibt?«
    »Ich habe ihnen erzählt, dass ich den Hund meiner Mutter suchen möchte.«
    »Und sie haben nichts dagegen gehabt? Sie erlauben Euch, einfach zu gehen?«
    »Warum sollten sie es nicht?«, fragte sie. »Wo könnte ich denn schon hingehen? Wo könnte einer von uns denn schon hingehen? Meine Familie ist da drinnen. Mutter und Vater sind im oberen Stockwerk. Die Soldaten wissen, ich werde zurückkommen. Sie gewähren uns alle Freiheiten, einmal abgesehen von der Freiheit, Russland zu verlassen, natürlich.«
    »Das wird bald geschehen«, sagte ich. »Dessen bin ich mir sicher.«
    »Ja, das glaube ich auch. Vater sagt, wir werden nach England gehen. Er schreibt Vetter Georgie fast täglich, um ihm unsere missliche Lage zu schildern, doch er hat noch keine Antwort erhalten. Wir wissen nicht, ob diese Briefe überhaupt abgeschickt werden. Du hast nichts darüber gehört, nehme ich an.«
    »Kein bisschen«, erwiderte ich mit einem Kopfschütteln. »Nur, dass die Bolschewiken auf den richtigen Augenblick warten, um Eure Familie außer Landes zu bringen. Sie wollen Euch nicht in Russland haben, das steht fest. Aber ich denke, sie warten so lange, bis Ihr das Land ungefährdet verlassen könnt.«
    »Ich wünschte mir, es wäre schon so weit«, sagte sie. »Ich will keine Großfürstin mehr sein, mein Vater will nicht mehr der Zar sein. Das alles bedeutet uns nichts mehr. Das sind doch bloß Wörter. Wir wollen nur, dass man uns gehen lässt, dass man uns unsere Freiheit wiedergibt.«
    »Der Tag wird kommen, Maria«, sagte ich. »Davon bin ich felsenfest überzeugt. Aber jetzt sagt mir bitte, wann ich Anastasia sehen kann.«
    Sie blickte zum Haus, aus dem gerade einer der Soldaten trat und sich, in der Nachtluft gähnend, umschaute. Wir regten uns nicht, während er dort stand, sich eine Zigarette anzündete, diese rauchte und dann wieder im Haus verschwand.
    »Ich werde ihr sagen, dass du hier bist«, sagte sie. »Wir teilen uns noch immer ein Zimmer. Wir werden die ganze Nacht darüber reden, das verspreche ich dir. Du wirst doch nicht gleich wieder von hier weggehen, oder?«
    »Ich werde niemals von hier weggehen«, erwiderte ich. »Nicht ohne Eure Familie.«
    »Ich danke dir, Georgi«, sagte sie, wobei sie lächelte und für einen Moment auf den Boden schaute,

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