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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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doch sein Opfer war schnell wieder auf den Beinen und zahlte es ihm mit gleicher Münze heim, was ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht huschen ließ. Wir sahen den Familien zu, die auf dem Weg von oder zu einer nahe gelegenen Schule waren, lehnten uns zurück und überließen uns unseren Gedanken und Erinnerungen, friedlich und entspannt, in dem Bewusstsein, dass eine lange und glückliche Beziehung dem Bedürfnis nach unentwegtem Geplauder den Boden entzieht. Obwohl uns beiden nie der Gesprächsstoff ausging, hatten Soja und ich schon seit Langem die Kunst perfektioniert, in der Gegenwart des anderen stundenlang stumm dazusitzen.
    »Hast du auch diesen Geruch in der Nase?«, fragte Soja mich schließlich, als wir unseren letzten Schluck Tee genommen hatten.
    »Diesen Geruch?«
    »Ja, das ist ein … nun, es ist schwer zu beschreiben, aber wenn ich die Augen schließe und ganz sachte einatme, erinnert er mich an meine Kindheit. London roch für mich immer nach Arbeit. Und Paris roch nach Angst. Aber Finnland – das erinnert mich an eine viel unbeschwertere Zeit in meinem Leben.«
    »Und Russland?«, fragte ich. »Wonach hat Russland gerochen?«
    »Eine Zeit lang roch es nach Glück und Wohlstand«, erwiderte sie auf der Stelle, ohne groß darüber nachzudenken. »Doch dann nach Wahnsinn und Krankheit. Und natürlich nach Religion. Und dann …« Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Offenbar genierte sie sich, ihren Satz zu vollenden.
    »Was?«, fragte ich mit einem Lächeln. »Los, sag’s mir.«
    »Du wirst mich bestimmt für töricht halten«, erwiderte sie mit einem entschuldigenden Achselzucken, »aber auf mich wirkte Russland immer wie ein verdorbener Granatapfel – er verbirgt seine faulige Natur, ist außen rot und appetitlich, doch wenn man ihn aufschneidet, quellen einem die Samen und fleischigen Samenmäntel entgegen, schwarz und ekelerregend. Russland erinnert mich an einen Granatapfel. Bevor er verrottet.«
    Ich nickte, ohne etwas darauf zu erwidern. Ich empfand keine besonderen Gefühle, was den Geruch unserer verlorenen Heimat betraf, doch die Menschen, die Häuser und die Kirchen, die mich in Finnland umgaben, erinnerten mich an die Vergangenheit. Dies waren womöglich schlichtere Vorstellungen – Soja hatte schon immer eher zu Metaphern geneigt als ich, vielleicht weil sie gebildeter war –, doch ich genoss den Gedanken, der Heimat wieder nahe zu sein, St. Petersburg wieder nahe zu sein, dem Winterpalais und sogar Kaschin.
    Doch wie hatte ich mich verändert, seit ich das letzte Mal an einem dieser Orte gewesen war! Als ich nach unserem Mittagsmahl beim Händewaschen in den Spiegel schaute, erblickte ich einen alten Mann, der sein Spiegelbild anstarrte, einen Mann, der vielleicht einmal attraktiv gewesen war, jung und kräftig, doch dieser Glanz war nun ein für alle Mal verblichen. Mein Haar war schütter, schlohweiße Strähnen ballten sich an beiden Seiten meines Schädels zusammen und offenbarten eine von Leberflecken übersäte Stirn, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem reinen, sonnengebräunten Teint meiner Jugend hatte. Mein Gesicht war schmal, meine Wangen waren eingefallen, meine Ohren wirkten unnatürlich groß, so als seien sie der einzige Teil meiner Physiognomie, der sich noch nicht auf dem Rückzug befand. Meine Finger waren knochig geworden, und eine pergamentene Hautschicht bedeckte das darunter befindliche Skelett. Ich hatte Glück, dass meine Beweglichkeit nicht eingeschränkt war, wie ich oft befürchtet hatte, doch wenn ich morgens aufwachte, dauerte es dennoch viel länger, bis ich all meine Kräfte und Ressourcen mobilisiert hatte, um mich aus dem Bett zu stemmen und mich zu waschen und anzukleiden. Hemd, Krawatte, Pullover – tagein, tagaus. Seit ich sechzehn war, basierte mein Leben auf Disziplin und Förmlichkeit. Mit jedem Monat, der verging, machte mir die Kälte mehr zu schaffen.
    Mitunter kam es mir seltsam vor, dass ein so alter Zausel wie ich noch immer in den Genuss der Liebe und des Respekts einer Frau kommen konnte, die so schön und jugendlich war wie Soja – denn die, so schien es mir, hatte sich kaum verändert.
    »Du, ich habe eine Idee«, sagte sie, als ich an unseren Tisch zurückkehrte, wobei ich mir unsicher war, ob ich mich wieder hinsetzen oder lieber darauf warten sollte, dass sie sich erhob.
    »Eine gute Idee?«, fragte ich mit einem Lächeln und entschied mich für Ersteres, denn Soja machte keine Anstalten, sich zu erheben.
    »Ich glaube

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