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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Er verschwendet nicht einen Gedanken an dich. Er hat seinen Sohn verloren, und das ist alles, was im Augenblick für ihn zählt. Er läuft mit verzerrtem Gesicht im Dorf herum, weint laut um Kolek und verflucht Nikolaus Nikolajewitsch. Er beschimpft den Zaren und gibt allen außer sich selbst die Schuld an dem, was vorgefallen ist. Die Soldaten haben ihm dringend geraten, seine hochverräterischen Äußerungen zu unterlassen, doch er hört nicht auf sie. Eines Tages wird er zu weit gehen, Georgi, und dann werden sie ihm ebenfalls eine Schlinge um den Hals legen. Glaube mir, es ist besser für dich, wenn du dich von ihm fernhältst.«
    Ich litt unter schweren Gewissensbissen und konnte vor Schuldgefühlen kaum schlafen. In Wahrheit hatte ich überhaupt nicht vorgehabt, dem Großfürsten das Leben zu retten, sondern hatte vielmehr gehofft, Kolek von einer Dummheit abhalten zu können, die er mit seinem Leben bezahlen müsste. Dass ich dadurch seinen Tod bewirkt hatte, war eine Ironie des Schicksals, die mir nicht verborgen blieb.
    Zu meiner Schande war ich jedoch fast darüber erleichtert, dass sein Vater mir keine Audienz gewähren wollte. Denn hätte er mich empfangen, so hätte ich mich zweifellos für meine Tat entschuldigt, und die beiden Soldaten hätten womöglich erkannt, dass ich nicht der Held war, für den mich alle hielten, und das mir in Aussicht gestellte neue Leben in St. Petersburg hätte vielleicht ein frühes Ende gefunden. Dies konnte ich nicht zulassen, denn ich wollte unbedingt weg von zu Hause. Die Möglichkeit eines Lebens jenseits von Kaschin hatte sich vor mir aufgetan, und als sich die Woche ihrem Ende zuneigte und der Augenblick meiner Abreise zusehends näher rückte, da begann ich mich zu fragen, ob ich tatsächlich vorgehabt hatte, Kolek zu retten, oder ob ich nicht vielmehr gehofft hatte, mich selber zu retten.
    An dem Morgen, als ich aus unserer Hütte hinaustrat, um die lange Reise nach St. Petersburg anzutreten, konnte ich erkennen, wie mich die anderen Muschiks mit einer Mischung aus Bewunderung und Verachtung anstarrten. Es stimmte, dass ich unserem Dorf große Ehre gemacht hatte, als Lebensretter des Vetters des Zaren, doch die Männer und Frauen, die mir zuschauten, als ich meine wenigen Habseligkeiten in den Satteltaschen des mir für die Reise zurückgelassenen Pferdes verstaute, hatten allesamt verfolgt, wie Kolek in diesen Straßen aufgewachsen war. Die Tatsache seines vorzeitigen Todes, ganz zu schweigen von der Rolle, die ich dabei gespielt hatte, lag in der Luft wie ein schaler Geruch. Sie waren ohne Frage treue Untertanen der Romanows. Sie glaubten an die kaiserliche Familie und an die Rechtmäßigkeit der Autokratie. Sie waren fest davon überzeugt, dass Gott persönlich den Zaren auf dessen Thron gesetzt hatte, und sie glaubten, dass die Angehörigen des Zaren ebenso unantastbar waren wie er selbst. Doch Kolek stammte aus Kaschin. Er war einer von uns. Und in einer solchen Situation war es unmöglich, zu entscheiden, wem die Loyalität nun gebührte.
    »Du kommst bald wieder zurück und besuchst mich, ja?«, fragte Asja, als ich mich zum Aufbruch anschickte. Sie hatte den Soldaten einige Tage lang damit in den Ohren gelegen, ob sie mich nicht nach St. Petersburg begleiten dürfe, wo sie natürlich ihr eigenes neues Leben zu beginnen hoffte, doch die beiden wollten nichts davon hören, und so musste sie sich auf eine einsame Zukunft in Kaschin gefasst machen, ohne ihren engsten Vertrauten in Reichweite zu wissen.
    »Ich werde es versuchen«, versprach ich ihr, obwohl ich nicht wusste, ob es mir damit ernst war. Ich konnte schließlich nicht wissen, was mir bevorstand. Und mir war nicht danach, irgendwelche Verpflichtungen einzugehen.
    »Ich werde jeden Tag auf einen Brief von dir warten«, beharrte sie, wobei sie meine Hände fest umklammerte und mich mit fragenden Augen anstarrte, aus denen jeden Moment die Tränen hervorzubrechen schienen. »Und ich werde mich irgendwann auf den Weg machen und dich aufspüren. Lass mich hier nicht versauern, Georgi! Das musst du mir versprechen! Erzähle jedem von mir, der dir über den Weg läuft. Erzähle allen, was für eine Bereicherung ihrer Gesellschaft ich wäre.«
    Ich nickte und küsste zuerst sie und dann meine anderen Schwestern und meine Mutter auf die Wange, bevor ich zu meinem Vater hinüberstiefelte, um ihm die Hand zu schütteln. Daniil starrte mich an, so als wüsste er nicht, wie er auf diese Geste reagieren sollte.

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