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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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riss es mich zurück in meine Jugend, und ihre Klänge hallten in meinem Innern wider, wehmütig und vertraut wie ein uralter Kinderreim.
    Wegen unseres fortgeschrittenen Alters waren Soja und mir Sitzplätze ganz vorne im Bus angeboten worden – vier Tage vor unserer Abreise hatte ich meinen achtzigsten Geburtstag gefeiert, meine Frau war nur zwei Jahre jünger als ich. Wir saßen still nebeneinander und betrachteten die Städte und Dörfer, die an uns vorüberzogen, in einem Land, das nicht unsere Heimat war, das nie unsere Heimat gewesen war, wo wir uns aber unserem Geburtsland so nahe fühlten wie nie zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. Die Landschaft entlang des Finnischen Meerbusens erinnerte mich wieder an längst vergessene Segeltörns vor der Küste des Baltikums, an Ausflüge, bei denen meine Tage und Nächte erfüllt waren von Spielen und Gelächter und vom Klang von Mädchenstimmen, die nach meiner Aufmerksamkeit verlangten, eine lauter als die andere. Wenn ich die Augen schloss und dem Geschrei der über meinem Kopf kreisenden Möwen lauschte, so konnte ich mir vorstellen, wie wir noch einmal in Tallinn, an der Nordküste von Estland, den Anker auswarfen oder von Riga in Richtung Norden segelten, nach St. Petersburg – eine leichte Brise im Rücken und über uns die Sonne, die auf das Deck der Standart herniederbrannte.
    Selbst die Stimmen der Menschen um uns herum klangen irgendwie vertraut; ihre Sprache war eine andere, natürlich, doch wir konnten dieses oder jenes Wort verstehen, und als ich hörte, wie sich die harten, kehligen Laute des Flachlands mit der sanften, zischenden Intonation der Fjorde vermischten, fragte ich mich, warum wir nicht schon viel früher hierher gekommen waren.
    »Wie fühlst du dich?«, fragte ich Soja, als ich einem Wegweiser nach Hamina entnahm, dass wir dort in nicht mehr als zehn oder fünfzehn Minuten eintreffen würden. Ihr Gesicht war ein wenig blass, und ich konnte erkennen, wie sehr ihr diese Fahrt gen Osten ans Herz ging, auch wenn sie sich nach außen hin nichts anmerken ließ. Wären wir allein gewesen, so hätte sie womöglich geweint, vor Freude und vor Traurigkeit, doch wir teilten uns den Bus mit Fremden, deren Vorurteile sie nicht bestätigen wollte, indem sie sie Zeugen der Schwäche einer alten Frau werden ließ.
    »Wie ich mich fühle? So als dürfte diese Reise niemals zu Ende gehen«, erwiderte sie ruhig.
    Wir waren seit einer knappen Woche in Finnland, und Soja erfreute sich einer ausgesprochen guten Gesundheit, was mich darüber nachdenken ließ, ob wir nicht vielleicht für immer übersiedeln sollten, da es ihr im nördlichen Klima allem Anschein nach besser ging als bei uns zu Hause in London. Ich dachte an die Biografien großer Schriftsteller, deren Leben ich nach meiner Pensionierung in der British Library studiert hatte, daran, wie sie ihre Heimat für die kühle Luft der Gebirge des europäischen Festlands verlassen hatten, um sich dort von den Krankheiten ihrer Zeit zu erholen. An den begnadeten Stephen Crane, der sich in Badenweiler von der Tuberkulose dahinraffen ließ; an Keats, der auf die Spanische Treppe hinausstarrte, während sich seine Lungen mit Bakterien füllten und er den aufgeregten Stimmen von Severn und Clark lauschte, die sich über die geeignete Behandlungsmethode in die Haare gerieten. Natürlich hatten sich diese Männer dorthin begeben, weil sie auf eine Wiederherstellung ihrer Gesundheit hofften, auf einer Verlängerung ihres Lebens. Doch das Einzige, was sie dort gefunden hatten, waren ihre Gräber gewesen. Würde es bei Soja genauso sein, fragte ich mich. Würde uns eine Rückkehr in den Norden Hoffnung bescheren und die Aussicht auf zusätzliche Lebensjahre oder nur die niederschmetternde Erkenntnis, dass sich nichts gegen den bösartigen Eindringling ausrichten ließ, der mir meine Frau wegzunehmen drohte?
    Ein kleines Café in der Stadt hatte ein traditionelles Lounas auf der Speisekarte. Wir riskierten es und nahmen draußen Platz, dick eingemummt in Mäntel und Schals. Die Kellnerin servierte uns warme Teller mit eingesalzenem Fisch und Saatkartoffeln und füllte die Gläser mit unserem Heißgetränk nach, wann immer es zur Neige ging. Eine Schar von Kindern lief an uns vorüber, und wir beobachteten, wie einer der Jungen ein kleineres Mädchen schubste, sodass es mit einem ängstlichen Schrei rücklings in einen Schneehaufen fiel. Soja beugte sich vor, um den Jungen wegen seiner Grobheit zur Rede zu stellen,

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