Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Berührung in Flammen aufgehen lassen. »Was ist denn mit mir, Soja? Mir hast du nichts von alledem gebracht!«
»Den Tod, nein. Aber Leid? Elend? Kummer? Glaubst du nicht, dass ich dir all dies zugefügt habe?«
»Natürlich glaube ich das nicht«, sagte ich, verzweifelt darum bemüht, sie zu beruhigen. »Schau uns beide an, Soja. Wir sind seit über fünfzig Jahren verheiratet. Wir sind glücklich gewesen. Ich bin glücklich gewesen.« Ich starrte sie an und betete inständig, dass meine Worte ihre Qualen lindern würden. »Bist du es denn nicht auch gewesen?«, fragte ich sie und ängstigte mich beinahe davor, ihre Antwort zu hören und unversehens vor den Trümmern unseres Lebens zu stehen.
Sie seufzte, nickte aber schließlich. »Ja«, sagte sie. »Du weißt, dass ich es gewesen bin. Aber das, was nun passiert ist – ich meine die Sache mit Arina –, das hat mit den Rest gegeben. Das war eine Tragödie zu viel. So etwas darf es in meinem Leben nie mehr geben. Nie mehr, Georgi!«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Ich bin jetzt neunundsechzig Jahre alt«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln. »Und ich habe genug. Ich habe … ich genieße das Leben nicht mehr, Georgi. Ehrlich gesagt, habe ich es noch nie genossen. Und jetzt reicht es mir. Ich will nicht mehr. Kannst du das verstehen?«
Sie stand auf und schaute mich mit einer solchen Entschlossenheit an, dass mir angst und bange wurde.
»Soja«, sagte ich, »was redest du da? So etwas sagt man nicht! Das ist …«
»Oh, ich meine nicht das, was du denkst«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Dieses Mal nicht, das verspreche ich dir. Ich meine bloß, dass ich, wenn das Ende kommt, und es wird bald kommen, dass ich es dann nicht bedauern werde. Genug ist genug, Georgi. Verstehst du das nicht? Empfindest du das manchmal nicht auch so? Schau dir das Leben an, das ich geführt habe, das wir gemeinsam geführt haben. Denk einmal darüber nach. Wie haben wir überhaupt so lange überleben können?« Sie schüttelte den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus, so als wäre die Antwort sehr einfach und offenkundig. »Ich will, dass es ein Ende hat, Georgi«, sagte sie zu mir. »Das ist alles. Ich will nur, dass es ein Ende hat.«
Der Prinz von Mogilew
Noch Wochen nach meiner Ankunft in St. Petersburg ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich in Gedanken nach Kaschin zurückkehrte, zu der Familie, die ich dort hinterlassen hatte, und zu dem Freund, dessen Tod so schwer auf meinem Gewissen lastete. Wenn ich nachts auf meiner schmalen Pritsche lag, tauchte Koleks Gesicht vor mir auf, seine Augen herausgequollen, sein Hals vom Strick zerschrammt und aufgescheuert. Ich stellte mir sein Entsetzen vor, als die Soldaten ihn zu dem Baum führten, von dem die Schlinge herabbaumelte, denn trotz des draufgängerischen Gebarens, das er für gewöhnlich an den Tag legte, stand für mich fest, dass er mit nichts als panischer Angst in den Tod gegangen war – und vermutlich voller Bedauern angesichts der Jahrzehnte, die er nun nicht mehr erleben würde. Ich bat inständig darum, dass er mir im Jenseits keine allzu schweren Vorwürfe machte, war mir aber sicher, diese könnten nicht schwerer sein als die, die ich mir selber machte.
Und wenn ich nicht an Kolek dachte, kreisten meine Gedanken um meine Familie, insbesondere um meine Schwester Asja, die Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte, um dort sein zu können, wo ich jetzt lebte. Tatsächlich war es Asja, an die ich eines Spätnachmittags dachte, als ich den Lesesaal des Winterpalais kennenlernte. Die Türen standen offen, und ich wollte schon daran vorbeigehen, überlegte es mir jedoch instinktiv anders und spazierte hinein – und fand mich mutterseelenallein in der Stille einer Bibliothek wieder, zum ersten Mal in meinem Leben. Drei Wände waren vom Fußboden bis zur Decke mit Regalen voller Bücher bedeckt, und an jeder dieser Bücherwände gab es eine Leiter, die an einer Schiene hing und es so möglich machte, sich beim Herumschmökern von einer Seite des Regals zur anderen zu ziehen. In der Mitte stand ein schwerer Eichentisch, auf dem zwei dicke Folianten lagen, mit aufgeschlagenen Seiten, auf denen Landkarten zu erkennen waren. Im Raum waren mehrere bequeme Lederfauteuils aufgestellt, und ich malte mir aus, wie ich einen Nachmittag lang in einem dieser Sessel saß, vertieft in eine spannende Lektüre. Natürlich hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht ein einziges Buch gelesen, aber
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