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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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es schien, als würden die Bücher leise nach mir rufen, als würde von ihren dicht bei dicht stehenden Rücken ein Flüstern zu mir herüberwehen. Ich griff mir eins nach dem anderen, überflog die Titelseiten, las die Eröffnungsabsätze so gut ich konnte und legte die begutachteten Bände danach gedankenlos auf dem Tisch hinter mir ab.
    Ich war so in meine Erkundung vertieft, dass ich nicht mitbekam, wie sich in meinem Rücken eine Tür öffnete. Erst als ein Paar schwerer Stiefel über den Boden marschierte, kehrte ich verdutzt in die Gegenwart zurück und bemerkte, dass ich nicht mehr allein war. Beim Umdrehen glitt mir das Buch, dem ich mich gerade gewidmet hatte, aus den Händen. Es fiel laut krachend zu Boden, wo es sich vor meinen Füßen öffnete. Das Geräusch hallte von den Wänden wider, während ich auf die Knie fiel und mich tief vor dem von Gott Auserwählten verbeugte.
    »Euer Majestät«, stammelte ich und traute mich nicht, zu ihm aufzuschauen. »Euer Majestät, ich bitte Euch demütigst um Verzeihung. Aber ich war in Gedanken versunken, wie Ihr seht, und …«
    »Steh auf, Georgi Daniilowitsch!«, sagte der Zar, und ich erhob mich langsam. Eben noch hatte ich meiner Familie nachgetrauert, und jetzt hatte ich eine Heidenangst davor, dass man mich wieder zu ihr zurückschickte. »Schau mich an!«
    Ich hob langsam den Kopf, und unsere Blicke begegneten sich. Ich spürte, wie meine Wangen rot anzulaufen begannen, doch der Zar sah weder erzürnt noch verstimmt aus.
    »Was treibst du hier überhaupt?«, fragte er mich.
    »Ich habe mich verlaufen«, erwiderte ich. »Eigentlich hatte ich nicht vor, diesen Raum hier zu betreten, doch dann sah ich …«
    »Die Bücher?«
    »Ja, Euer Majestät. Ich war neugierig, das ist alles. Ich wollte mal schauen, was da so drinsteht.«
    Er atmetet einen Moment lang schwer, so als fragte er sich, wie am besten mit dieser Situation umzugehen sei, seufzte dann kurz und entfernte sich von mir. Er trat hinter den Eichentisch, schaute auf die Bücher mit den Landkarten hinab, blätterte deren Seiten um und würdigte mich keines Blickes, während er sich mit mir unterhielt.
    »Ich hätte dich nie für einen Leser gehalten«, sagte er ruhig.
    »Ich bin auch keiner, Euer Majestät«, erklärte ich. »Das heißt, ich bin nie einer gewesen.«
    »Aber lesen kannst du?«
    »Jawohl, Euer Majestät.«
    »Wer hat es dir beigebracht? Dein Vater?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Euer Majestät. Mein Vater wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Meine Schwester Asja hat es mir beigebracht. Sie besaß ein paar Bücher, die sie an einem Stand gekauft hatte. Sie hat mir das Alphabet beigebracht – zumindest in groben Zügen.«
    »Ich verstehe«, sagte er. »Und wo hat deine Schwester lesen gelernt?«
    Ich dachte darüber nach, musste aber passen. Vielleicht hatte sie es sich selbst beigebracht, angetrieben von dem Wunsch, unserem Heimatdorf zu entkommen, um wenigstens für die kurze Dauer der Seiten einer Geschichte in strahlendere Welten entfliehen zu können.
    »Aber es hat dich interessiert?«, fragte mich der Zar. »Ich meine, irgendetwas hat dich hier hereingezogen.«
    Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und dachte einen Moment lang nach, bevor ich ihm eine ehrliche Antwort gab. »Es hatte etwas … Interessantes, ja, Euer Majestät«, sagte ich. »Meine Schwester hat mir oft Geschichten erzählt. Und ich habe ihr immer gern zugehört. Ich dachte, ich könnte hier vielleicht etwas finden, das mich an sie erinnert.«
    »Ich bin mir sicher, du vermisst mittlerweile deine Familie«, sagte der Zar, wobei er den Tisch verließ und an ein Fenster trat, sodass das dadurch hineinschimmernde milde Licht ihn von allen Seiten beleuchtete. »Ich vermisse meine Familie auch, sobald ich einige Zeit von ihr getrennt bin.«
    »Ich habe noch nicht die Zeit gehabt, an sie zu denken, Euer Majestät«, erwiderte ich. »Ich habe immer alle Hände voll zu tun. Graf Tscharnetzki hält mich ganz schön in Trab. Und in meiner übrigen Zeit habe ich die Ehre, dem Zarewitsch Gesellschaft leisten zu dürfen.«
    Er lächelte, als ich seinen Sohn erwähnte, und dann nickte er. »Ja, in der Tat«, sagte er. »Und ihr kommt gut miteinander aus, ihr zwei?«
    »Ja, Euer Majestät, sehr gut.«
    »Er scheint dich zu mögen. Ich habe mich bei ihm nach dir erkundigt.«
    »Das freut mich zu hören, Euer Majestät.«
    Er nickte und schaute weg, denn nun zog es ihn wieder zu den Landkarten hin. Er beugte sich

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