Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
über sie und musterte sie konzentriert, wobei er sich mit der Hand über den Bart strich. »Diese Karten«, murmelte er. »Hier ist alles verzeichnet, siehst du das, Georgi? Das Land. Die Grenzen. Die Häfen. Wie man den Feind schlagen kann. Wenn ich es doch nur erkennen könnte! Doch ich kann es nicht erkennen !«, zischte er, mehr zu sich selbst als zu mir. Ich beschloss, ihn nicht länger bei seinem Kartenstudium zu stören, und begann, mich rückwärts aus dem Raum zu entfernen.
»Vielleicht sollten wir dir ein wenig Unterricht erteilen lassen«, sagte er laut, als ich fast die Tür erreicht hatte.
»Unterricht, Euer Majestät?«
»Um deine Lesekünste zu verbessern. Diese Bücher sind dazu da, gelesen werden. Ich sage immer zu meinen Bediensteten, sie dürfen lesen, was sie wollen, sofern sie schonend mit den Büchern umgehen und sie in dem Zustand zurückbringen, in dem sie sie vorgefunden haben. Na, würde dir das gefallen, Georgi?«
Ich wusste nicht, ob es mir gefallen würde, wollte ihn jedoch nicht enttäuschen und gab ihm die Antwort, die er vermutlich hören wollte.
»Ja, Euer Majestät«, sagte ich. »Das würde mir sehr gut gefallen.«
»Nun, dann werde ich veranlassen, dass Graf Tscharnetzki dich an einigen der Unterrichtsstunden für die Jungen vom Pagenkorps teilnehmen lässt. Da du so viel Zeit mit Alexei verbringen wirst, kann es nicht schaden, wenn du ein wenig Bildung bekommst. Und jetzt darfst du gehen«, sagte er und ließ mich wegtreten.
Ich kehrte ihm den Rücken und verließ den Raum. Als ich die Tür hinter mir schloss, konnte ich noch nicht ahnen, dass dieses eine Gespräch mit dem Zaren die Initialzündung sein sollte für ein Leben inmitten von Büchern.
Bevor ich auch nur ein einziges Wort mit der Großfürstin Anastasia Nikolajewna gewechselt hatte, küsste ich sie.
Ich hatte sie vorher bei drei Gelegenheiten zu Gesicht bekommen – einmal an dem Röstkastanienstand am Ufer der Newa, und noch einmal später an jenem Abend, als ich, an meinem allerersten Tag im Winterpalais, auf meine Audienz beim Zaren gewartet und beim Betrachten des Flusses und seiner Ufer die vier Großfürstinnen erblickt hatte, wie sie von ihrem privaten Ausflugsdampfer an Land gegangen waren.
Die dritte Gelegenheit ergab sich zwei Tage später, im Anschluss an ein nachmittägliches Kampftraining bei der Leibgarde. Völlig entkräftet und besorgt, ich könnte es in puncto Kraft und Ausdauer nie mit den anderen aufnehmen und würde deswegen postwendend nach Kaschin zurückgeschickt werden, wollte ich am späten Nachmittag in mein Zimmer gehen, verlief mich aber im Labyrinth des Palastes. Als ich dann eine Tür öffnete, von der ich annahm, sie würde auf meinen Flur führen, landete ich stattdessen in einer Art Klassenzimmer und war bereits halb hindurchmarschiert, bevor ich meinen müden Blick vom Fußboden löste und meinen Fehler erkannte.
»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«, sagte eine Stimme zu meiner Linken, und ich erblickte Monsieur Gilliard, den Schweizer Hauslehrer der Zarentöchter, wie er hinter seinem Tisch stand und mich irritiert und zugleich belustigt anstarrte.
»Bitte entschuldigen Sie, Herr Lehrer«, sagte ich schnell, wobei ich angesichts meiner Tölpelhaftigkeit ein wenig errötete. »Ich habe gedacht, diese Tür führe zu meinem Zimmer.«
»Nun, wie du sehen kannst«, erwiderte er und breitete die Arme aus, um auf die Landkarten und Porträts zu deuten, die die Wände bedeckten, Porträts von berühmten Romanschriftstellern und großen Komponisten, deren Werke zum Lehrstoff der Mädchen zählten, »tut sie es nicht.«
»Nein, Herr Lehrer«, erwiderte ich mit einer höflichen Verbeugung und machte kehrt, um den Raum zu verlassen. Dabei fiel mein Blick auf die vier Schwestern, wie sie in zwei Reihen hintereinander jeweils an einem eigenen Tisch saßen und mich mit einer Mischung aus Neugier und Langeweile beäugten. Dies war das erste Mal, dass auch die anderen drei von mir Notiz nahmen – an dem Kastanienstand hatten sie mich kaum bemerkt. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich ein wenig gehemmt, aber zugleich auch wahnsinnig privilegiert. Mit den Töchtern des Zaren in ein und demselben Raum zu sein – für einen Muschik wie mich war das schon ein ziemliches Ding, um nicht zu sagen, eine unbeschreibliche Ehre. Olga, die älteste von ihnen, schaute mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck von ihrem Buch auf.
»Er sieht erschöpft aus, Monsieur Gilliard«, bemerkte sie. »Er ist
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