Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
bearbeitet. Das muss ich dir bei Gelegenheit zeigen.« Ich starrte ihn an, verblüfft über diese Bemerkung. Die Narben des Großfürsten in Augenschein zu nehmen, war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. »Es gibt nicht einen Mann in unserer Armee, der keine Narben hat«, fuhr er fort, ohne meine Entgeisterung wahrzunehmen. »Betrachte es als ein Ehrenzeichen, Jatschmenew. Und was die Weiber betrifft … nun, ich garantiere dir, wenn sie die Narbe sehen, werden sie daran mehr Gefallen finden, als du dir in deinen kühnsten Träumen vorzustellen vermagst.«
Ich errötete, unschuldig wie ich war, und schaute verlegen zu Boden.
»Heiliges Kanonenrohr, Jatschmenew!«, sagte er lachend. »Du bist ja puterrot geworden. Du hast deine Narbe doch bestimmt schon jeder Hure in St. Petersburg gezeigt, oder?«
Ich sagte nichts und schaute weg. Ich hatte nichts dergleichen getan und war in Sachen Fleischeslust noch immer so unbedarft wie am Tage meiner Geburt. Ich hatte kein Interesse an Huren, obwohl ich problemlos an welche herangekommen wäre, denn sie waren ein fester Bestandteil des Palastlebens. Ich hatte auch kein Interesse an Frauen, deren Reize ohne eine finanzielle Gegenleistung verfügbar gewesen wären. Für mich gab es nur eine einzige Frau, ein Mädchen, das meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Doch dessen Identität preiszugeben, wäre unmöglich gewesen, denn es handelte sich um eine so unpassende Liaison, dass deren Enthüllung womöglich mein Todesurteil gewesen wäre – und Nikolaus Nikolajewitsch wäre der Letzte gewesen, dem ich mich anvertraut hätte.
»Na, bloß keine Hemmungen, mein Lieber«, sagte er und schlug mir noch einmal auf den Arm. »Du bist noch jung. Warum solltest du dich nicht amüsieren wie … Oh mein Gott!«
Die jähe Veränderung in seinem Tonfall ließ mich aufblicken, und ich sah, dass er nicht mehr mich anschaute, sondern durch das Fenster in den Garten starrte, wo das Fort des Zarewitschs inzwischen Formen angenommen hatte. Alexei selber war nirgends zu sehen, doch als ich meinen Blick in die Richtung lenkte, in die der Großfürst schaute, entdeckte ich ihn schließlich, wie er, in etwa viereinhalb Meter Höhe, auf einem dicken Ast einer Eiche saß.
»Alexei!«, flüsterte der Großfürst, mit vor Angst bebender Stimme.
»He, ihr da unten!«, rief der Junge von seinem Ausguck, voller Stolz auf die luftige Höhe, die er erklommen hatte. »Vetter Nikolaus, Georgi, seht ihr mich?«
»Alexei, bleib, wo du bist!«, brüllte der Großfürst und stürmte in den Garten. »Rühr dich nicht! Bleib, wo du bist! Ich komme und hol dich da runter.«
Ich folgte ihm auf dem Fuß, darüber erstaunt, wie ernst er das Ganze zu nehmen schien. Der Junge hatte es geschafft, auf den Baum hinaufzuklettern, also würde er es auch schaffen, wieder hinunterzuklettern. Und trotzdem spurtete Nikolai Nikolajewitsch zu dieser Eiche, als hinge unser aller Leben, ja das Schicksal von ganz Russland davon ab, ob wir den Jungen von dort oben herunterbekamen.
Es war jedoch zu spät. Der Anblick dieses auf ihn zustürmenden Monstrums von einem Mann war zu viel für den Jungen. Er wollte aufstehen und am Stamm hinunterklettern – vielleicht weil er dachte, er habe irgendein ungeschriebenes Gesetz gebrochen und müsse sich nun schleunigst davonmachen, bevor er erwischt und bestraft werden konnte –, doch er blieb mit dem Fuß an einem Ast hängen. Im selben Augenblick hörte ich ihn erschrocken aufschreien, sah, wie er sich vergeblich an den kleineren Ästen und Zweigen unter ihm festzuhalten versuchte und dann unsanft und lautstark auf dem Boden landete. Er setzte sich gleich wieder auf, rieb sich die Stirn und den Ellbogen und grinste uns beide an, als wäre das Ganze für ihn eine große Überraschung gewesen, wenn auch keine besonders angenehme.
Erleichtert erwiderte ich sein Lächeln. Es ging ihm also gut. Ein Malheur, wie es Jungen nun einmal passiert. Er hatte dabei keinen Schaden genommen.
»Los, schnell«, sagte der Großfürst, wobei er sich nun mir zuwandte, mit kreidebleichem Gesicht. »Hol die Ärzte! Und zwar zack, zack, Jatschmenew!«
»Aber ihm fehlt doch nichts, Euer Durchlaucht«, protestierte ich, darüber erstaunt, wie viel Wind er um diesen Unfall machte.
»Du holst auf der Stelle die Ärzte, Jatschmenew!«, schrie er und stieß mich vor Zorn fast um. Diesmal gehorchte ich ihm sofort.
Ich machte kehrt, rannte los und holte Hilfe.
Und binnen weniger Minuten kam der gesamte
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