Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Haushalt völlig zum Erliegen.
Der Abend kam und ging, ohne dass ein Abendessen aufgetragen wurde, und dann verstrich die Nacht, ohne dass irgendeine Unterhaltung oder Zerstreuung geboten wurde. Gegen zwei Uhr morgens konnte ich mich schließlich unter einem Vorwand aus dem Zimmer verdrücken, wo sich die übrigen Mitglieder der Leibgarde versammelt und mich die ganze Zeit über angestarrt hatten, einer verächtlicher als der andere. Ich begab mich unverzüglich zu meiner Pritsche, wo ich nur noch die Augen schließen, schnell einschlafen und die Ereignisse dieses schrecklichen Tages vergessen wollte.
In der Zeit zwischen dem Unfall und dem frühen Morgen hatte ich abwechselnd unter Anfällen von Verwirrung, Wut und Selbstmitleid gelitten, wusste aber immer noch nicht, warum Alexeis Sturz als eine solche Katastrophe angesehen wurde, denn er zeigte keinerlei Anzeichen einer äußeren Verletzung, einmal abgesehen von ein paar leichten Prellungen am Ellbogen, am Bein und am Oberkörper. Natürlich ahnte ich irgendwie, dass die besondere Fürsorge, die man dem Zarewitsch entgegenbrachte, nicht bloß mit seiner Nähe zum Thron zu tun hatte, sondern noch eine andere Ursache haben musste. Im Rückblick konnte ich mich an Gespräche mit dem Zaren, mit Mitgliedern der Leibgarde und sogar mit Alexei selber erinnern, in denen gewisse Dinge angedeutet, aber nie klar benannt worden waren, und ich verfluchte mich nun, weil ich so dumm gewesen war, dieser Sache nicht auf den Grund zu gehen.
Als ich durch die Flure ging und mich dabei zunehmend selbst bemitleidete, öffnete sich zu meiner Linken eine Tür, und ehe ich mich’s versah, hatte mich jemand beim Rockaufschlag gepackt und in das Zimmer gezerrt.
»Wie konntest du bloß so dumm sein?«, fragte mich Sergei Stasjewitsch, als er die Tür hinter uns zuwarf und mich herumriss, damit ich ihm in die Augen sehen konnte. Zu meiner großen Überraschung handelte es sich bei der anderen Person, die sich in diesem Raum befand, um keine Geringere als die Großfürstin Maria, Alexeis ältere Schwester, die mit dem Rücken zu einem Fenster stand, ihr Gesicht bleich, ihre Augen vom Weinen verquollen. Einer der Leibgardisten hatte zuvor erwähnt, dass die Zarin bereits aus St. Petersburg eingetroffen war, und als ich diese Neuigkeit vernahm, durchzuckte mich unversehens die Hoffnung, dass sie nicht allein gekommen war. »Wieso hast du nicht auf ihn aufgepasst, Georgi?«
»Ich habe auf ihn aufgepasst, Sergei«, widersprach ich, darüber verärgert, dass nun offenbar alle Welt diesen armen Muschik aus Kaschin zum Sündenbock machen wollte. »Ich war mit ihm im Garten, es war alles ganz ungefährlich. Ich wollte nur kurz ins Haus gehen und bin dann abgelenkt worden von …«
»Du hättest ihn nicht unbeaufsichtigt lassen dürfen«, sagte Maria, wobei sie auf mich zutrat. Ich entbot ihr eine tiefe Verbeugung, die sie mit einer unwirschen Handbewegung abtat, als fühlte sie sich davon beleidigt. Sie war im gleichen Alter wie ich – wir waren beide ein paar Tage zuvor siebzehn geworden – und eine Schönheit wie von Porzellan, eine Erscheinung, nach der sich die Männer umdrehten, sobald sie einen Raum betrat. Für manche war sie die mit Abstand schönste unter den Zarentöchtern. Aber nicht für mich.
»Das hat man davon, wenn man Amateure in unsere Reihen aufnimmt«, sagte Sergei, wobei er sich frustriert von mir abwandte und nervös im Raum auf und ab ging. »Tut mir leid, das zu sagen, Georgi, denn im Grunde ist es nicht deine Schuld gewesen. Du hast viel zu wenig Erfahrung für einen so verantwortungsvollen Posten. Dass Nikolaus Nikolajewitsch dich dafür empfohlen hat, ist ein trauriger Witz. Weißt du, wie lange ich ausgebildet worden bin, um den Zaren beschützen zu dürfen?«
»Nun, da du bloß zwei Jahre älter bist als ich, kann das ja nicht so lange gewesen sein«, sagte ich, denn ich wollte mir von ihm nichts gefallen lassen.
»Sergei ist seit acht Jahren bei uns im Palast«, fuhr mich die Großfürstin an, von meiner letzten Bemerkung offenbar verärgert, und baute sich nun direkt vor mir auf. »Er hat seine Jugend im Pagenkorps verbracht. Weißt du überhaupt, was das ist?« Sie blickte mich voller Verachtung an und schüttelte den Kopf. »Natürlich weißt du das nicht«, beantwortete sie ihre eigene Frage. »Er gehörte zu den einhundertfünfzig Jungen, die aus dem Hofadel ausgewählt wurden, um sie zu Leibgardisten auszubilden. Und nur die allerbesten Mitglieder des
Weitere Kostenlose Bücher