Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Korps werden schließlich damit betraut, meine Familie zu beschützen. Sergei hat von der Pike auf gelernt, worauf er achten muss, wo die Gefahren lauern, wie man verhindert, dass es zu einer wie auch immer gearteten Tragödie kommt. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele meiner Vorfahren und Verwandten hinterhältig ermordet wurden? Ist dir bewusst, dass mein Bruder, meine Schwestern und ich ständig in Lebensgefahr schweben? Das Einzige, worauf wir uns verlassen können, sind unsere Gebete und unsere Leibwächter. Sergei Stasjewitsch gehört zu der Sorte von Männern, die wir um uns herum brauchen. Du gehörst nicht dazu. Du nicht!«
Sie schüttelte den Kopf und schaute mich mitleidig an. Mir kam es irgendwie merkwürdig vor, dass sie mir den Vorfall mit ihrem Bruder genauso übel zu nehmen schien wie die patzige Antwort, die ich Sergei gegeben hatte. Was war er für sie denn anderes als ein x-beliebiges Mitglied der Leibgarde? Er wiederum, das Objekt ihrer Verteidigungsrede, stand nun wütend am Fenster, und ich sah, wie sie zu ihm hinüberging und sich leise mit ihm unterhielt, bis er den Kopf schüttelte und Nein sagte. Ich fragte mich, ob Maria vielleicht ein wenig in ihn verschossen war, denn er war ein beeindruckender junger Mann, groß und gut aussehend, mit einem blonden Haarschopf und durchdringenden blauen Augen.
»Ich weiß nicht, was man von mir erwartet«, sagte ich schließlich, vor Verzweiflung nun den Tränen nahe. »Seitdem man mich mit dieser Aufgabe betraut hat, habe ich mein Möglichstes getan, um auf Alexei aufzupassen. Es ist ein Unfall gewesen. Warum ist das so schwer zu verstehen? Das ist bei einem Jungen doch nichts Besonderes.«
»Sieh zu, dass du eine Mütze voll Schlaf kriegst, Georgi«, sagte Sergei ruhig, wobei er sich nun zu mir umdrehte und zu mir herüberkam, um mir voller Mitgefühl auf die Schulter zu klopfen. Ich schüttelte seine Hand jedoch ab, denn ich wollte mich von ihm nicht so gönnerhaft behandeln lassen. »Morgen erwartet dich ein harter Tag. Du wirst ihnen Rede und Antwort stehen müssen. Es ist nicht deine Schuld gewesen, jedenfalls nicht ausschließlich. Man hätte dir vorher die Wahrheit sagen müssen. Hättest du es vielleicht gewusst …«
»Gewusst?«, fragte ich, mit vor Verwirrung gerunzelter Stirn. »Was gewusst?«
»Geh«, sagte er und öffnete die Tür, um mich auf den Flur hinauszuschieben. Ich hätte unser Gespräch lieber fortgesetzt, doch er unterhielt sich schon wieder leise mit der Großfürstin. Ich fühlte mich überflüssig, von ihnen im Stich gelassen und verzog mich, zutiefst gekränkt, ging jedoch nicht zu Bett, wie ich ursprünglich vorgehabt hatte, sondern kehrte stattdessen in den Garten zurück, dorthin, wo alles seinen Ausgang genommen hatten.
Es war eine Vollmondnacht, und schließlich stand ich wieder an der Stelle, wo ich mich früher am Nachmittag mit dem Großfürsten unterhalten hatte, und genoss es nun, mit meinen Gedanken und Reuegefühlen allein zu sein. Von draußen wehte eine sanfte Brise herein, und ich stellte mich an die offene Tür, schloss die Augen und ließ mich vom Wind umschmeicheln, wobei ich mir vorstellte, ich wäre ganz woanders, weit weg an einem Ort, wo nicht so viel von mir erwartet wurde. In der Dunkelheit, in der düsteren Einsamkeit jenes Flurs in der Stawka fand ich nun so etwas wie Frieden, eine kleine Atempause von dem Drama, das uns den Nachmittag und den Abend hindurch nicht mehr hatte zur Ruhe kommen lassen.
Ich hatte schon eine ganze Weile sich nähernde Schritte gehört, bevor ich mich endlich dazu entschloss, mich umzudrehen und in die Richtung zu schauen, aus der sie kamen. In diesen Schritten lag eine Dringlichkeit, eine Entschlossenheit, die mich nervös machte.
»Wer da?«, rief ich. Denn was immer Sergei und die Großfürstin von mir halten mochten, ich war während der vergangenen Monate darin ausgebildet worden, mutmaßliche Attentäter mit immer ausgefeilteren Techniken zur Strecke zu bringen, aber hier, mitten im Hauptquartier des russischen Feldheeres, würde wohl kaum mit einem zu rechnen sein. »Wer da?«, wiederholte ich, diesmal lauter, wobei ich mich fragte, ob ich nicht vielleicht doch eine Chance erhielt, mich noch vor Sonnenaufgang in den Augen der kaiserlichen Familie zu rehabilitieren. »Geben Sie sich zu erkennen!«
Als ich dies sagte, trat die Gestalt schließlich ins helle Mondlicht, und noch bevor ich den Atem anhalten konnte, stand sie unmittelbar vor mir, hob eine
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