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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Hand in die Höhe und schlug mir dann heftig und entschlossen quer über das Gesicht. Die Wucht und die Plötzlichkeit dieses Hiebs überraschten mich dermaßen, dass ich das Gleichgewicht verlor, nach hinten taumelte und zu Boden krachte, wobei ich schmerzhaft auf dem Ellbogen landete, aber nicht aufschrie, sondern bloß benommen dasaß und meinen verletzten Kiefer betastete.
    »Du Dummkopf!«, sagte die Zarin und machte einen weiteren Schritt auf mich zu, woraufhin ich ein Stück vor ihr zurückwich, wie ein rückwärts krabbelnder Krebs an einem Strand, obwohl ich nicht glaubte, dass sie mich noch einmal schlagen würde. »Du elender Dummkopf«, wiederholte sie, mit einer Stimme, die vor Wut und Angst zitterte.
    »Euer Majestät«, sagte ich und erhob mich, hielt aber sicherheitshalber einen gewissen Abstand zu ihr. In ihren Augen lag ein Ausdruck von tiefster Beunruhigung, eine Panik, wie ich sie noch nie bei jemandem wahrgenommen hatte. »Ich kann immer nur sagen, es war ein Unfall. Ich weiß nicht, wie …«
    »Wir können uns keine Unfälle erlauben «, schrie sie. »Wozu bist du überhaupt nütze, wenn du nicht auf meinen Sohn aufpassen kannst? Wenn du nicht darauf achtest, dass ihm kein Leid geschieht?«
    »Wozu ich nütze bin?«, fragte ich, nicht gewillt, diesen Vorwurf auf mir sitzen zu lassen, selbst wenn er von der Kaiserin von Russland stammte. »Ich kann ihn nicht rund um die Uhr im Auge haben«, beharrte ich. »Er ist ein Junge. Also ist er auf Abenteuer aus.«
    »Es heißt, er sei von einem Baum gefallen«, erwiderte sie. »Was um Himmels willen hatte er auf einem Baum zu suchen?«
    »Er ist da raufgeklettert«, erklärte ich ihr. »Der Zarewitsch hat sich ein Fort gebaut, und wahrscheinlich brauchte er dafür noch ein bisschen Holz und …«
    »Warum bist du nicht bei ihm gewesen? Du hättest bei ihm sein müssen!«
    Ich schüttelte den Kopf und schaute weg, denn mir war unbegreiflich, wie sie von mir erwarten konnte, dass ich ihrem Sohn niemals von der Seite wich. Er war ein unternehmungslustiges Bürschchen, egal, was die anderen von ihm dachten. Der Bengel büxte mir in einem fort aus.
    »Georgi«, sagte die Zarin, wobei sie die Hände an ihre Wangen legte und sie dort einen Moment lang ruhen ließ, während sie einen tiefen Seufzer von sich gab. »Georgi, du verstehst nicht. Ich habe zu Nicky gesagt, wir hätten es dir erklären sollen.«
    » Es erklären?«, fragte ich und erhob dabei meine Stimme, ungeachtet des zwischen uns bestehenden Standesunterschieds, denn was immer es sein mochte, ich wollte es endlich erfahren. » Was erklären? Bitte erzählt es mir!«
    »Hör genau hin!«, sagte sie und legte kurz den ausgestreckten Zeigefinger an ihre Lippen, woraufhin ich um mich blickte und die Ohren spitzte, weil ich dachte, gleich bekäme ich etwas zu hören, das mir alles erklärte.
    »Was ist?«, fragte ich. »Ich höre nichts.«
    »Ich weiß«, sagte sie. »Jetzt ist es noch still. Es ist nichts zu hören. Noch nicht. Doch in einer Stunde, vielleicht auch etwas früher, werden diese Flure von den Schreien meines Sohnes widerhallen, denn dann setzen bei ihm die ersten Schmerzen ein. Sein Blut kann nicht gerinnen, und in etwa einer Stunde wird er die Folgen seiner Verletzungen zu spüren bekommen. Und du wirst denken, dass du noch nie im Leben solche qualvollen Schreie gehört hast, aber …«, sie schüttelte den Kopf, und dabei entfuhr ihr ein kurzes, bitteres Lachen, »aber diese Schreie sind nichts – nichts! – im Vergleich zu dem, was dann kommt.«
    »Aber das war doch kein schwerer Sturz«, protestierte ich zaghaft, denn allmählich dämmerte mir, was hinter dieser übertriebenen Fürsorge steckte.
    »Ein paar Stunden später werden die richtigen Schmerzen einsetzen«, fuhr sie fort. »Die Ärzte werden nicht in der Lage sein, die Blutungen zu stillen, denn seine Verletzungen sind alle innerlich, und man kann ihn nicht operieren, weil die Gefahr besteht, dass er dann verblutet. Da das Blut nicht auf natürliche Weise abfließen kann, wird es in Alexeis Muskeln und Gelenke strömen und Bereiche zu füllen versuchen, die bereits voll sind – was diese verletzten Stellen dann noch weiter ausdehnt. Er wird Qualen zu erdulden haben, die du und ich uns niemals vorstellen können. Er wird heulen und wimmern. Und er wird schreien. Er wird eine Woche lang schreien, vielleicht auch länger. Kannst du dir solche Schmerzen vorstellen, Georgi? Kannst du dir vorstellen, wie es sein muss, so lange

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