Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
ungläubig fragte, wie mir geschah. »Anastasia, mein Liebling.«
1953
Ich saß am Fensterplatz eines Cafés gegenüber der Central School of Art and Design und wartete auf Soja, wobei ich hin und wieder auf die Uhr schaute und das Geschnatter der Leute um mich herum zu ignorieren versuchte. Sie war bereits über eine halbe Stunde in Verzug, und allmählich begann ich mich zu ärgern. Ein Exemplar von Die Caine war ihr Schicksal lag aufgeschlagen vor mir auf dem Tisch, doch ich konnte mich nicht auf die Worte konzentrieren und schob das Buch schließlich beiseite, um stattdessen mit dem Teelöffel in meinem Kaffee herumzurühren, während ich mit den Fingern der anderen Hand nervös auf die Tischplatte trommelte.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlenderten Dozenten und Studenten des Instituts vorüber. Einige von ihnen standen am Eingangsportal, unterhielten sich, lachend, schwatzend und Küsschen verteilend, und manch einer erntete dabei von diesem oder jenem Passanten ein missbilligendes Stirnrunzeln wegen seines unorthodoxen Aufzugs. Ein junger Mann von etwa neunzehn Jahren bog um die Ecke und marschierte die Straße entlang, als defilierte er bei der alljährlichen Fahnenparade vor der Königin. Er trug Röhrenhosen, ein dunkles Oberhemd samt Weste, und abgerundet wurde das Ganze von einem knielangen, taillierten Sakko mit Schulterpolstern. Sein Haar glänzte vor Brillantine und war über der Stirn zu einer imposanten Tolle frisiert. Der junge Mann stolzierte einher, als gehörte die Stadt ihm. Man kam nicht umhin, ihn anzustarren, was vermutlich auch seine Absicht war.
»Georgi.«
Ich drehte den Kopf und war überrascht, meine Frau neben mir stehen zu sehen. Das Treiben draußen vor dem Institut hatte mich dermaßen in seinen Bann gezogen, dass ich ihre Ankunft gar nicht bemerkt hatte. Noch vor einem Jahr, dachte ich bekümmert, wäre mir das nicht passiert.
»Hallo«, sagte ich und schaute auf die Uhr, was ich noch im selben Moment bedauerte, denn es war eine aggressive Geste, dazu gedacht, auf ihre Verspätung hinzuweisen, ohne es auszusprechen. Ich war verärgert, keine Frage, doch ich wollte nicht verärgert erscheinen . Die vergangenen sechs Monate hatte ich hauptsächlich damit verbracht, zu versuchen, nicht verärgert zu erscheinen . Dies gehörte zu den Dingen, die uns beide zusammenhielten.
»Entschuldigung«, sagte sie und nahm mit einem erschöpften Seufzer neben mir Platz, nachdem sie Hut und Mantel abgelegt hatte. Vor ein paar Wochen hatte sie sich ihr Haar ziemlich kurz schneiden lassen, zu einer Frisur, wie die Königin sie trug – nein, wie die Königinmutter; ich hatte mich noch immer nicht daran gewöhnt, sie so zu nennen –, doch das war mir, ehrlich gesagt, egal. Es gab zu jener Zeit viele Dinge, die mir egal waren. »Ich bin aufgehalten worden, als ich gerade gehen wollte«, erklärte sie. »Dr. Highsmiths Sprechstundenhilfe war nicht an ihrem Platz, und ich konnte doch nicht gehen, ohne mir den nächsten Termin geben zu lassen. Es hat ewig gedauert, bis sie wieder auftauchte, und dann konnte sie ihren Terminkalender nicht finden.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte, als wäre ihr die Welt zu strapaziös, bevor sie kurz lächelte und sich mir zuwandte. »Und dann diese Busse … aber wie dem auch sei, ich kann nicht mehr tun, als mich zu entschuldigen.«
»Ist schon gut«, sagte ich und schüttelte den Kopf, als wäre das Ganze nicht der Rede wert. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist. Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, mir geht’s gut.«
»Was kann ich dir bestellen?«
»Nur eine Tasse Tee, bitte.«
»Nur Tee?«
»Ja, bitte«, sagte sie munter.
»Du hast keinen Hunger?«
Sie zögerte kurz, dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf.
»Im Moment nicht«, sagte sie. »Heute habe ich irgendwie keinen Appetit. Ich nehme nur einen Tee, danke.«
Ich nickte und ging zur Theke. Als ich dort stand und darauf wartete, dass das Wasser kochte und die Blätter aufgebrüht wurden, beobachtete ich Soja, wie sie durch das Fenster auf das Institut schaute, wo sie seit nunmehr fünf Jahren unterrichtete, und bemühte mich, sie nicht zu hassen für das, was sie uns angetan hatte. Für das, was sie mir angetan hatte. Dafür, dass sie hier verspätet auftauchte, ohne Appetit, denn dies bedeutete für mich, dass sie woanders gewesen war, mit jemand anderem, und dass sie mit ihm zu Mittag gegessen hatte und nicht mit mir. Auch wenn ich wusste, dass dies
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