Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten und mir, so weit es ging, die Bilder zu beschreiben, die sie in der Dunkelheit und Einsamkeit ihrer Träume verfolgt hatten.
Als unsere Ehe schließlich an ihrem absoluten Tiefpunkt angelangt war und meine Frau nachts nicht mehr schlafen konnte und kaum einen Bissen anrührte, während ich vor Liebe, Wut und Schmerz weder aus noch ein wusste, da wachte sie eines Tages auf und sagte, dass es so nicht weitergehen könne, dass sich etwas ändern müsse. Ich erstarrte und dachte sofort an das Schlimmste. Ich stellte mir vor, dass sie mich allein zurückließ und dass mir ein Leben ohne sie bevorstand.
»Wie meinst du das?«, fragte ich, wobei ich nervös schluckte und im Geiste eine Rede vorbereitete, in der ich ihr alles, aber auch wirklich alles verzieh, wenn sie mich nur wieder so lieben würde, wie sie es früher getan hatte.
»Ich glaube, ich brauche professionelle Hilfe, Georgi«, sagte sie.
Der Starez und die Schlittschuhläufer
Schon seit einigen Tagen hatte ich das unheimliche Gefühl, verfolgt zu werden. Wenn ich am frühen Abend den Palast verließ, um das Ufer der Moika entlangzuspazieren, blieb ich hin und wieder stehen, um die Gesichter der an mir vorbeihastenden Menschen zu mustern, denn ich war überzeugt, dass mich einer von ihnen beobachtete. Es war ein eigenartiges, beunruhigendes Gefühl, das ich anfangs auf eine Paranoia zurückführte, die womöglich mit meinen neuen Lebensumständen zusammenhing.
Inzwischen gefiel mir meine neue Stellung bei der kaiserlichen Familie dermaßen gut, dass ich mich praktisch nie an meine Vergangenheit erinnern konnte, ohne die Angst zu verspüren, wieder dorthin zurückkehren zu müssen. Wenn ich tatsächlich einmal an zu Hause dachte, hatte ich Gewissensbisse, die ich jedoch unverzüglich wieder aus meinem Kopf verbannte.
Selbst als Kaschin eines Tages wieder vor mir lag, dachte ich nur an Anastasia und daran, wie wir uns in dunklen Fluren trafen und ich sie in eines der unzähligen leeren Zimmer des Palastes lotste, um sie zu küssen und an mich zu ziehen, in der Hoffnung, sie würde vielleicht eine noch größere Intimität zulassen, um meine pubertäre Wollust zu stillen. Am Vorabend war ich ziemlich aus der Rolle gefallen. Als wir uns umarmten, hatte ich ihre Hand genommen und langsam an meiner Jacke hinabgeschoben, in Richtung meines Gürtels, wobei mir das Herz bis zum Hals schlug, vor Begierde und in banger Erwartung, doch sie riss sich von mir los und sagte »Nein, Georgi … lass das … das dürfen wir nicht …«
Mein Kopf war so sehr von diesen Gedanken erfüllt, und vom dringenden Bedürfnis, schnellstens in die Einsamkeit meines Zimmers zurückzukehren, dass ich die in dicke Schals eingemummte junge Frau, die am Admiralitätsgebäude stand, kaum wahrnahm. Sie sagte irgendetwas zu mir, ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte, da mich ein heftiger Wind umtoste. In meiner Selbstbezogenheit zischte ich ihr verärgert zu, ich hätte kein Geld für sie übrig und sie solle sich in eine der Suppenküchen verziehen, die in St. Petersburg aus dem Boden geschossen waren, um den Bedürftigen Nahrung und Wärme zu spenden.
Zu meiner Überraschung rannte die Frau mir nach. Ich wirbelte herum, als sie mich am Arm packte, und fragte mich zugleich, ob sie tatsächlich glaubte, sie könne mir das bisschen Geld rauben, das ich bei mir hatte. Ich erkannte sie erst, als sie mich mit meinem Namen ansprach.
»Georgi.«
»Asja!«, schrie ich verblüfft, aber auch erfreut, und starrte meine Schwester an, als wäre sie ein Gespenst und kein Mensch. »Ich kann’s nicht fassen! Bist du’s tatsächlich?«
»Ja, ich bin’s«, sagte sie mit einem Kopfnicken, und dann schossen ihr die Freudentränen in die Augen. »Endlich habe ich dich gefunden.«
»Du hier?«, fragte ich und schüttelte den Kopf. »Hier in St. Petersburg?«
»Ja. Da, wo ich schon immer sein wollte.«
Ich umarmte sie. Gleichzeitig schoss mir, zu meiner ewigen Schande, mit einem Mal der Gedanke durch den Kopf: Was hat sie hier zu suchen? Was will sie von mir?
»Komm, lass uns da rübergehen«, sagte ich und bedeutete ihr, mir in den Schutz einer der Kolonnaden zu folgen. »Komm, raus aus der Kälte. Du siehst verfroren aus. Wie lange bist du eigentlich schon hier?«
»Noch nicht sehr lange«, erwiderte sie und nahm neben mir auf einer niedrigen Steinbank Platz, in einer windgeschützten Ecke, wo wir besser verstehen konnten, was der andere sagte.
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