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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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Menschen glaubten an ihn, sie liebten ihn, weil er arm wie sie lebte und den Mut hatte, gegen die großen Herren aufzutreten, wenn es darum ging, dem armen Mann zu helfen.
    Als der römische Kaiser Maximus in Trier residierte, empfing er die gallischen Bischöfe, die ihn um Hilfe für die schwer heimgesuchten Provinzen baten. Während die anderen sich wie arme Tröpfe gebärdeten, deren Schicksal ganz von der Gnade des Kaisers abhing, trug Martin sein Gesuch um Begnadigung einiger Männer auf eine Weise vor, die auf den Kaiser nicht wie eine Bitte, sondern wie ein Befehl wirkte. Er lud den Bischof daraufhin an seine Tafel. Martin erklärte aber offen, er setze sich nicht an einen Tisch mit einem Mann, der einen Kaiser verjagt und den zweiten ermordet habe. Maximus versuchte nun, den Aufstand zu rechtfertigen. Die Schuld an dem Tod des Gegenkaisers konnte er abwälzen. Daraufhin nahm Martin die Einladung an. Der Kaiser setzte den Bischof auf seine rechte Seite. Der Priester, der Martin begleitete, saß unter den kaiserlichen Prinzen. Als der Mundschenk dem Kaiser den ersten Becher Wein brachte, ließ er den Trunk zuerst dem Bischof reichen. Er wollte den Wein nur aus heiliger Hand annehmen, nachdem der Gast getrunken hatte.
    Martin trank, reichte den Becher aber nicht dem Kaiser, der darauf wartete, sondern dem Priester, um damit zu zeigen, daß der geistliche Stand auch mit dem geringsten seiner Vertreter den Vorrang habe vor den höchsten weltlichen Würdenträgern.
    Der Kaiser nahm diese Lehre an und achtete den schlichten Mann um so höher. Auf seine Mitbrüder wirkte Martin vor allem durch sein Beispiel. Als er einmal an einem hohen Festtag in die Kirche gehen wollte, um dort das Amt zu halten, begegnete ihm auf dem Weg ein nackter Armer. Martin befahl seinem Archidiakon, dem Bettler ein Gewand zu geben. Der Diener Gottes, der zugleich Armenpfleger war, zögerte. Da kehrte der Bischof um, ging in sein Gemach, zog den Leibrock aus, gab ihn dem Armen und befahl ihm, sich sofort zu entfernen. Nach einer Weile erinnerte der Archidiakon den Bischof daran, daß es hohe Zeit sei, in die Kirche zu gehen, das Volk warte schon. Martin antwortete: »Ich kann nicht gehen, ehe du nicht den Nackten bekleidest.« Der Archidiakon, der den Bischof nicht sehen konnte, sagte, »ich sehe keinen Nackten mehr.« Martin antwortete: »Beschaff du nur das Kleid! Der Nackte wird sich schon finden!« Da ging der Archidiakon statt in die Kirche zornig auf den Markt, kaufte für fünf Silberlinge einen alten, schäbigen, viel zu kurzen Rock und warf ihn dem Bischof vor die Füße. Martin hob ihn ruhig auf und zog ihn an. Das Kleid bedeckte kaum die Knie, und die Ärmel reichten nur bis zu den Ellenbogen. So ging Martin in die Kirche und feierte die Messe. Um sein Haupt lag ein goldener Schein, und wenn er die Arme zum Gebet erhob, deckten Engel seine Blöße mit prächtigem Schmuck. Das Volk sah das Wunder. Dagegen beobachteten es aus dem geistlichen Stande nur eine Nonne, ein Presbyter und drei Mönche. Die Not der Kirche zwang den Bischof, noch einmal an den kaiserlichen Hof zu gehen und den Herrscher selbst um Abhilfe zu bitten. Inzwischen regierte Kaiser Valentinianus. Er war nicht bereit, Martin anzuhören, und verbot, den Bischof vorzulassen. Zwei- oder dreimal erschien Martin vergeblich im Palast. Er wurde jedesmal zurückgewiesen. Da betete und fastete er eine ganze Woche lang und versuchte es wiederum.
    Da ihm niemand den Zugang verwehrte, drang er bis in den Empfangssaal des Kaisers vor. Als Valentinianus ihn sah, wurde er wütend, weil seine Befehle mißachtet worden waren.
    Um Martin seinen Unwillen zu zeigen, blieb er sitzen.
    Plötzlich aber fing der goldene Stuhl, auf dem er saß, an zu glühen, und das Antlitz des Bischofs erschien ihm von so überlegener Majestät, daß Valentinianus aufstehen mußte, ob er wollte oder nicht. Sein Zorn verschwand. Er ging dem Bischof mit ausgebreiteten Armen entgegen, empfing ihn gütig und bewilligte, ohne gefragt zu sein, die Erfüllung all seiner Wünsche. Hätte Martin Geschenke angenommen, der Kaiser hätte ihn damit überschüttet. Martin starb in seinem einundachtzigsten Lebensjahr, nicht in seinem Kloster, sondern in einem benachbarten Sprengel, in den man ihn gerufen hatte, um einen Streit beizulegen. Er lag wie immer nur auf einem Sack. Als seine Schüler ihm eine weiche Decke und Stroh geben wollten, lehnte er beides ab. Er wollte in Sack und Asche sterben. Ambrosius, der

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