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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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Kinder in größte Not. Aber sie hielten treu zu ihm und trugen ihr Schicksal, ohne ihm gram zu sein. Es hatte damit angefangen, daß der junge Pope dem Stadthauptmann ins Gewissen redete und ihn ermahnt hatte, begangenes Unrecht
    wiedergutzumachen. Der selbstherrliche Beamte des Zaren kam in die Kirche und prügelte den Popen vor allen Heiligen.
    Keiner glaubte, daß der Geschlagene je wieder aufstehen könne. Aber er genas. Der Nachfolger des Stadthauptmanns verlangte, daß der Pope die Messe schneller singen solle. Als Awwakum sich weigerte, gegen die Vorschriften des Rituals zu handeln, feuerte der Stadthauptmann zwei Pistolen auf ihn ab. Der Heilige sagte darüber: »Ich sang, wie es
    vorgeschrieben ist, nicht schneller und nicht langsamer.«
    Doch eines Tages mußte Awwakum schließlich mit den
    Seinen das Dorf verlassen. Er führte ein asketisches Leben und setzte sich mehr für den Glauben seiner Väter ein, als dies bei den einfachen Dorfpopen sonst der Brauch war. Sein Ruf drang bis zum Zaren, der ihn hoch achtete, ja verehrte. Da teilten die gut gemeinten Reformen des Patriarchen Nikon die russische Kirche in zwei Lager. In diesem Land, in dem Symbol und Lehre eine unaufhebbare Einheit bildeten, in dem die äußere Form nur der sichtbare Teil des tief im Wesen verwurzelten frommen Väterglaubens war, in diesem Land entspann sich ein erbitterter Streit zwischen Alt- und Neugläubigen über das Zeichen des Kreuzes. Das Kreuz wurde in der russischen Kirche bis dahin mit zwei Fingern
    geschlagen. Der Patriarch Nikon ordnete an, daß von nun an das Kreuz mit drei Fingern geschlagen werden müsse. Beide Parteien konnten ihren Entschluß wohl begründen. Aber der Patriarch stand auf der Seite der Macht; er erklärte alle für Ketzer, die das Kreuz nur mit zwei Fingern schlügen, und ließ alle Bücher mit den alten Vorschriften verbrennen. Awwakum aber galt als Anführer der Reformfeinde, denn er trat gegen den Patriarchen auf und schreckte nicht davor zurück, den Zaren einen Mann zu nennen, der Unwahrheit und
    Schmeichelei liebe. Damals begann in Rußland der
    Kirchenkampf, der Raskol, die Abspaltung der Altgläubigen, die nie ganz überwunden wurde; denn Peter der Große und seine Nachfolger haben die Raskolniken mit den grausamsten Mitteln bekämpft und damit viele Märtyrer geschaffen.
    Awwakum aber wurde in diesem Kampf zu einer großen
    Gestalt. Er stand die schweren, jahrelangen Leiden durch, er nahm geduldig zur eigenen die Not seiner Kinder und seines Weibes auf sich, weil ihm das gottgewollte Schicksal heilig war. Als er in Moskau im Keller des Androjewklosters hungerte, brachten Engel ihm Nahrung. Wie die Wüstenväter kämpfte er mit dem Satan um die Seelen von Besessenen, die er in seinen Gefängnissen traf. Als er in Sibirien, jenseits von Tobolsk, mit den Seinen über eine endlose Eisfläche zog und am Verdursten war, öffnete sich vor ihm die dicke Eisdecke und zeigte ihm gutes Trinkwasser. Sie nährten sich von dem Mehl der Föhrennüsse; sie schliefen nachts im sibirischen Winter irgendwo unter den Bäumen, denn der Hetman des Lagers haßte die Altgläubigen, er ließ sie nicht ins Lager; sie hatten kein Feuer, um sich zu wärmen. Bis nach Daurien am Amur wurde Awwakum verschickt. Er wurde gepeitscht und gefoltert, er wurde zwölf Jahre lang gepeinigt und gequält, mit zerschundenem Rücken zog er seinen Schlitten über das Jablonkagebirge, die Frau neben sich, mit dem Säugling auf den Armen, die kleinen Kinder neben sich, die immer wieder in den tiefen Schnee fielen. Endlich rief man den Verbannten zurück – um ihn in den Tod zu schicken. Auf der Rückreise von Sibirien, die drei ganze Jahre dauerte, fragte seine Frau:
    »Wie lange soll dieses Elend noch dauern?« Awwakum
    antwortete: »Bis in den Tod ist uns auferlegt, zu leiden, Markowna, um unseres Heilands Jesu Christi willen!« Da schwieg die Frau lange. Dann holte sie tief Atem in der eisigen Luft Sibiriens und sagte: »Wenn das so ist, Petrowitsch, dann laß uns nur weiterwandern!« So wanderten sie weiter bis Moskau. Dort erwartete sie neue Verfolgung. Awwakum
    wurde mit seinen Glaubens- und Leidensgenossen nach
    Pustoserk gebracht, an einen Platz, der an der Mündung der Petschowa am Nördlichen Eismeer liegt. Am 14. April 1682
    bestieg er dort den Scheiterhaufen. Er hob seine Hand hoch über die Flammen, zeigte dem Volk die zwei nach alter Weise zur Bekreuzigung ausgestreckten Finger und rief: »So ihr in diesem Zeichen beten

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