Das Hausbuch der Legenden
ihn taufen konnte. Der Jüngling aber erzählte, er sei schon vor Gottes Gericht gestanden, und man habe ihn schon in die Welt der Finsternis schicken wollen, da seien plötzlich zwei Engel erschienen und hätten berichtet, daß Martin für ihn bete. Darauf habe der Herr befohlen, ihn zurückzuschicken und ihn dem Martin lebendig auszuliefern. Diese Geschichte wurde überall erzählt und brachte Martin Ruhm und Zulauf, die er gar nicht wollte. Er kam beim Volk in den Ruf eines heiligen und wundertätigen Mannes.
Um diese Zeit wurde der Bischofsstuhl von Tours frei. Die Bürgerschaft wählte einmütig Martin. Er fühlte sich aber nicht zu diesem Amt berufen, er wollte Mönch bleiben und lehnte ab. Da griffen die Bürger zu einer List. Sie schickten einen der Ihren vor, der Martin zu seiner todkranken Frau holen sollte.
Als Martin in die Stadt kam, standen am Weg die Einwohner von Tours und der anderen Städte und Dörfer des Bistums und jubelten ihm zu und zeigten ihm so ihren Willen, ihn zum Bischof zu erheben. Die Laien wollten einen Mann des Volkes im Klerus haben. Die Bischöfe lehnten Martin ab. Sie stießen sich an dem ungepflegten Äußeren des Einsiedlers. Am heftigsten widersprach der Bischof von Angers, der den Namen Defensor führte. Die erregte Menge hatte dem zum Lektor der Synode bestimmten Kleriker den Weg verlegt. Sein Vertreter schlug die Bibel aufs Geratewohl auf, um eine Stelle aus dem Psalter zu lesen. So kam es, daß er vor der feierlichen Versammlung mit dem achten Psalm in lateinischer Sprache auch die Worte las: »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast Du Dir ein Lob bereitet, auf daß verstört werden die Feinde und Widersacher (defensoris).« Der Bischof Defensor nahm diesen Wink des Himmels an, und Martin wurde zum Bischof geweiht. Er änderte seine Lebensweise nicht, sondern ließ sich eine Zelle unmittelbar an die Kirche bauen. Mit der Zeit wurde aber der Andrang des Volkes zu groß, und Martin gründete das Kloster Marmoutier am Ufer der Loire. Es wurde über tausend Jahre lang einer der geistigen Mittelpunkte Frankreichs. Martin wohnte dort mit etwa achtzig Mönchen. Sie lebten nach einer strengen Regel. Es gab kein persönliches Eigentum. Keiner der Mönche durfte kaufen oder verkaufen. Nur der gemeinsame Gottesdienst und wenige gemeinsame Mahlzeiten führten die Mönche zusammen. Sie lebten allein in ihren Zellen, schrieben die heiligen Bücher ab und beteten. Ihre Kleidung bestand aus Fellen; Wein bekamen nur die Kranken. Martin zog mit seinen Brüdern über Land, um das Evangelium zu predigen, die heidnischen Gallier zu bekehren und ihre Götter zu stürzen. Dabei stießen sie oft auf heftigen Widerstand. Bauern und Adelige verteidigten die Altäre ihrer Götter. In Autun stürzte sich einer der Gegner mit dem gezückten Schwert auf Martin. Der Bischof blieb ruhig stehen, knüpfte sein Gewand auf und streckte ihm den Hals hin. Da verlor der Heide seine Angriffslust. Ein anderer ließ in einer ähnlichen Lage sein Messer fallen. In einem
Marktflecken stand eine uralte Fichte, welche die Heiden für heilig hielten. Vergeblich versuchte Martin ihnen zu erklären, daß Gott nicht in einem Baumwipfel nisten könne. Das sei vielleicht ein geeigneter Platz für einen Teufel. Der Oberpriester und die Leute leisteten ihm ernsthaft Widerstand.
Sie wollten den Baum nicht fällen. Schließlich ließen sie sich doch dazu herbei unter der Bedingung, daß Martin auf der Seite stehen blieb, auf die der Baum fallen mußte. Damit war er einverstanden. Er ließ sich sogar an der gefährlichsten Stelle festbinden. Die Heiden fällten ihre heilige Fichte im Zorn und in der Hoffnung, mit ihr den Feind ihrer Götter zu erschlagen.
Martins Schüler konnten ihre Sorge um den Meister nicht verbergen. Nur er war zuversichtlich, betete und bekreuzigte sich, als der Baum zu wanken begann. Wider Erwarten fiel er auf die Seite seiner Verfolger, die sich nur mit knapper Not retten konnten. Martin nutzte solche eindrucksvollen Ereignisse und beschwichtigte und gewann die Eingesessenen mit Predigten, die ihm viele Täuflinge zuführten.
Martin vollbrachte auch manche wunderbare Heilung. Das Volk benutzte sogar Stücke seiner Kleidung als heilkräftige Amulette. Martin selbst war dies nicht recht. Er lehnte es auch ab, zu kommen, wenn man ihn zu todkranken Menschen oder gar zu Toten holen wollte in der Hoffnung, daß er sie durch ein Wunder wieder ins Leben zurückholen könne. Aber die
einfachen
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