Das Hausbuch der Legenden
die Frage, was den Menschen nach dem Tod erwarte.
Um diese Zeit lebte Barlaam als Einsiedler in den Einöden des Landes Sinear. Im Traum wurde ihm geoffenbart, was in der Seele des jungen Mannes vor sich ging. Er verkleidete sich als Kaufmann, ging in den Palast des Prinzen, bat um ein Gespräch mit dem Haushofmeister und sagte: »Ich bin
Kaufmann und will einen Stein verkaufen. Dieser Stein hat die Kraft, die Blinden sehend, die Tauben hörend, die Lahmen gehend, die Blöden weise zu machen. Wie ich höre, liebt der Prinz Edelsteine. Ich will ihm deshalb das Kleinod zeigen.
Führt mich zu ihm!« Der Haushofmeister sah den Fremden lange an und sagte: »Ihr seht nicht aus wie ein Kaufmann.
Aber zeigt mir Euren Stein. Ich verstehe einiges von diesen Dingen. Wenn ich den Stein so finde, wie Ihr ihn beschreibt, dann könnt Ihr mit einer guten Bezahlung rechnen.« Barlaam antwortete: »Mein Stein hat eine merkwürdige Eigenschaft: wer ihn betrachtet, muß gesunde Augen und ein reines Gewissen haben, sonst verliert er die Kraft, die der Allmächtige in ihn gelegt hat. Wie ich sehe, habt Ihr kranke Augen. Der Prinz aber soll noch von allen dunklen Mächten unberührt sein und schöne, gesunde Augen haben. Aus diesem Grunde möchte ich ihm den Stein zeigen, und zwar ihm ganz allein.« Da erwiderte der Haushofmeister: »Wenn das so ist, dann will ich den Stein nicht sehen. Ich habe wirklich kranke Augen und kann mich auch nicht von Sünden freisprechen. Ich werde dich zum Prinzen führen.« Der Prinz empfing den verkleideten Eremiten mit großer Ehrerbietung, so daß Barlaam zu ihm sagte: »Ich sehe, Ihr seid ein verständiger junger Mann. Ihr nehmt mich freundlich auf, obgleich ich schlecht gekleidet bin. Ihr beurteilt die Menschen nicht nach dem äußeren Schein.« Dann sprach er lange über den äußeren Schein und den inneren, den wahren Wert und machte seine Lehre an vielen Beispielen deutlich. Dem Prinzen gefielen die Reden, die ihm Antwort auf viele unausgesprochene Fragen gaben. Er ließ Barlaam alle Tage zu sich kommen, und der Eremit tat alles, um seinem Schüler den »Stein der Weisen« zu übergeben, der ihn verwandeln und zum wahren Glauben führen sollte. Er verkündete die Gebote des Christentums und machte dem Prinzen die Nichtigkeit des Götzendienstes begreiflich. Er sprach über die Eitelkeit dieser Welt und die Vergänglichkeit aller irdischen Freuden, über die
Dauerhaftigkeit von Glaube, Liebe und Hoffnung, und über den ewigen Gewinn, den gute Werke und Almosen im Jenseits bringen. Joasaph folgte den Reden des Eremiten mit
wachsender Aufmerksamkeit. Eines Tages sagte er: »Ich will alles verlassen und dir folgen.« Barlaam erwiderte aber:
»Wenn du das jetzt tust, dann ziehst du die Aufmerksamkeit des Königs auf meine Brüder. Du wirst mit diesem Schritt eine Verfolgung auslösen. Bleib zunächst, wo du bist. Warte einen geeigneten Zeitpunkt ab, um zu mir zu kommen.« Dann taufte Barlaam den Königssohn, küßte ihn und zog wieder in die Wüste. Als der König hörte, daß sein Sohn Christ geworden war, war er sehr niedergeschlagen. Selbst seinen Vertrauten gelang es nicht, ihn zu trösten. Einer riet ihm, den Prinzen durch eine Täuschung wieder zum alten Glauben
zurückzubringen. Er kannte einen Einsiedler, der noch an die alten Götter glaubte und dem ehrwürdigen Barlaam in allen Stücken ähnlich war. Er sollte geholt werden, um mit dem Prinzen und anderen über Religionsfragen zu diskutieren. Er sollte zunächst den christlichen Glauben verteidigen, dann aber sich von den anderen überzeugen lassen. Alle hofften, daß der Prinz sich der Entscheidung des vermeintlichen Lehrers beugen werde. Joasaph war sehr betrübt, als er hörte, daß sein verehrter Lehrer gefangen sei. Er merkte aber bald, daß die Heiden nicht den wahren Barlaam gefangen hatten und ihn nur täuschen wollten. Zuvor aber ging der Vater noch einmal zu seinem Sohn, um ihm ins Gewissen zu reden. Er sagte: »Mein Sohn, du hast schweres Leid über mich gebracht! Du hast mein graues Haar geschändet, du hast meinen Augen das Licht geraubt. Warum hast du mir das angetan, mein Sohn? Warum verleugnest du den Glauben deiner Väter?« Joasaph erwiderte:
»O Vater, warum sollte ich die Finsternis nicht vertauschen gegen das Licht, die Lüge gegen die Wahrheit? Bemühe dich nicht um mich! So wenig du das Weltmeer ableiten kannst, so wenig du mit deiner Hand das Himmelsgewölbe erreichst, so wenig kannst du mich trennen von meinem
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