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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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schwebend vernahm sie die Gesänge der himmlischen Heerscharen und sah die Klarheit des göttlichen Angesichts. So wurden ihr Geist und ihr Leib gesättigt.
    Als es an der Zeit war, daß sie aus dem Leben scheiden sollte, fügte es Gott, daß ein frommer Einsiedler sah, wie sie in den sieben Stunden über ihrer Höhle schwebte. Er wunderte sich sehr und wartete, was denn mit ihr geschehen würde. Als er sah, daß die Engel sie wieder in ihre Höhle brachten, nahm er sich ein Herz, ging bis auf einen Steinwurf an die Höhle heran und rief: »Die du in dieser Höhle wohnst, wer du auch seist, sage mir bei Gott, wer du bist; sage mir, was Gott mit dir beginnt!« Aber er bekam keine Antwort. Er rief ein zweites Mal und hörte wieder keine Antwort. Erst nach dem dritten Mal erwiderte ihm Maria Magdalena: »Hast du nie von Maria Magdalena gehört, von der großen Sünderin, welche die Füße Jesu mit ihren Tränen wusch und sie mit ihren Haaren abtrocknete?« Da antwortete der Klausner: »Davon habe ich wohl gehört. Nach den Lehren der Kirche ist das vor weit über dreißig Jahren geschehen.« Dann horchte der Einsiedler wieder und hörte die unbekannte Stimme sagen: »Ich bin diese Maria Magdalena. Ich habe dreißig Jahre in dieser Wildnis gelebt.
    Der tägliche Anblick der göttlichen Klarheit und die himmlische Musik haben mich in dieser Zeit erquickt und satt gemacht. Jetzt aber hat mir der Herr offenbart, daß ich aus dem Leben gehen soll. Darum bitte ich dich, gehe zu unserem Bischof Maximian und sage ihm, er solle morgen am Tag der Auferstehung des Herrn allein in die Kirche gehen. Die Engel werden mich dorthin bringen.«

    Obgleich der Klausner nur die Stimme gehört und niemanden gesehen hatte, eilte er zum Bischof und berichtete, was er gehört hatte. Maximian dankte Gott für diese Nachricht und war zur bestimmten Stunde allein in der Kirche. Da sah er Maria Magdalena hoch in den Lüften schweben und mit
    ausgebreiteten Armen beten. Heilige Engel trugen sie. Von dem täglichen Anblick der göttlichen Klarheit leuchtete ihr Gesicht so sehr, daß es erträglicher war, in die helle Sonne zu schauen. Als sie Maximian sah, sprach sie: »Tritt her zu mir und fürchte dich nicht, Vater! Meide deine Tochter nicht!« Da trat der fromme Bischof zu ihr und reichte ihr den Leib des Herrn. Sie empfing ihn unter Tränen. Dann warf sie sich vor dem Altar nieder. In der Morgendämmerung verließ ihre Seele den Leib und wanderte zum Herrn. In der Kirche aber
    verbreitete sich ein lieblicher Geruch, der sieben Tage und sieben Nächte anhielt. Maximian aber ließ einen Marmorsarg bauen und ihre Zeichen und die Geschichte ihres Lebens in den roten Stein graben. Dann begrub er sie und befahl den Seinigen, ihn dereinst neben der Heiligen beizusetzen.

    Thekla, die Magd des lebendigen Gottes

    ALS DER Apostel Paulus nach der Flucht aus Antiochien hinauf ins Gebirge zog, kam er auch in die alte Stadt Ikonium, wo er im Hause des Onesiphorus gastfreundlich aufgenommen
    wurde. Dort traf sich die kleine christliche Gemeinde, dort predigte er über die dreizehn Seligpreisungen, über die Enthaltsamkeit und die Auferstehung. Im Hause gegenüber wohnte Thekla, ein Mädchen aus den vornehmen Kreisen von Ikonium. Sie hörte von ihrem offenen Fenster aus aufmerksam den Predigten des Apostels zu und vergaß darüber Essen und Trinken und Schlafen, ihre Familie und ihren Verlobten Thamyris. Wie eine Spinne saß sie an ihrem Fenster; sie beneidete die vielen jungen Menschen, die ungehindert in das Nachbarhaus gehen und Paulus von Angesicht zu Angesicht sehen konnten. Sie war gefangen von seinen Worten, ergriffen von der neuen Lehre, die er verkündete. Vergeblich bemühten sich Mutter und Bräutigam, sie wieder an sich zu ziehen.
    Schließlich weinten alle bitterlich, Thamyris um die Frau, die er verlor, die Mutter um ihr Kind, die Mägde um ihre junge Herrin.
    Da verließ Thamyris das Haus im Zorn und mischte sich unter die Leute, die bei Paulus ein- und ausgingen. Er kam mit zwei ungetreuen Begleitern des Apostels ins Gespräch und lud sie in sein Haus. Er liebte Thekla und wollte wissen, mit welcher List Paulus die jungen Männer und Frauen dazu verführte, die Ehe zu meiden. Beim Wein erklärten ihm die beiden abtrünnigen Männer, Paulus verspreche die
    Auferstehung nur denen, die rein bleiben und das Fleisch nicht beflecken. Sie rieten ihm, den Apostel dem Statthalter Kastilius vorzuführen und ihn anzuklagen, weil er die Menschen zu der

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