Das Heerlager der Heiligen
Wort, das er noch sagen konnte und das noch gehört wurde, war: »Mein Gott, öffnet das Fenster, sonst fallen wir um wie die Fliegen!« Dieser Satz ging über den Äther und gab den Ton der Sendung an.
Vilsberg hatte seinen Platz vor einem der Mikrophone der großen Tafelrunde eingenommen. Neben ihm saß Pater Agnellu, aber nur noch als eine flüchtige Symbolfigur und weil der ebenfalls anwesende Sendeleiter es nicht wagte, die Sendung abzustellen. Vilsberg war ganz einfach zur Geisel geworden, so wie er es vorausgesehen hatte. Tapfer versuchte er, der Lage Herr zu werden und die Initiative in den Händen zu behalten. Mit einem Handzeichen zur Regiekabine wollte er sich Gehör verschaffen. Ein zitternder Sprecher eröffnete die Sendung mit der üblichen Formulierung: »Boris Vilsberg berichtet zur Lage …!« Was hat der Unglückliche zu sagen gewagt?: Im Studio verstand keiner mehr den andern. Ein Riesenradau! Ein Sturm auf die Mikrophone der Wortschneider. Überall schrie man: »Boris Vilsberg kommentiert überhaupt nichts! Von nun an kommentiert nur noch das Volk!« Da es mindestens ein Dutzend um die Tafelrunde verteilte Mikrophone gab und vor jedem Mikrophon ein halbes Dutzend außer Rand und Band geratene, brüllende Redner, kann man sich das Ergebnis vorstellen. Da sie alle aber fast das gleiche sagten – neue Welt, Ende der Rassen und der Ausbeutung der Menschen durch den Menschen, allgemeine Religion, Tod dem westlichen Imperialismus, Berufung des Menschen zur Liebe und tausend andere Sahnetorten aus dem gleichen Ofen –, waren die Stimmen nahezu unverständlich. Man kam daher rasch überein, etwas Ordnung in diesem wirren Chaos zu schaffen. Durch Handabstimmung wurde beschlossen, daß jeder reichlich Gelegenheit bekommen solle, zu reden, was er wollte. Auf zum Karussell! Nehmen Sie Ihre Fahrkarte!
Jetzt ging‘s los. Es dauerte und dauerte. Aber bald schaltete sich so etwas wie ein Direktorium ein, bestehend aus einem abgerichteten schwarzen Straßenkehrer, einem vietnamesischen Studenten und einem militanten Franzosen. Man stimmte erneut ab. Zuerst brauchte man einen markanten Namen: PVR, Pariser Volksradio, im Dienst der vorläufigen Regierung der vielrassischen Gemeinde von Paris! Der Vorschlag wurde durch Handerheben angenommen. Man weiß nicht, welches geniale Karnickel ihn erfunden hat, aber er machte bald Schule. Ähnliche Komitees tagten fast überall, sogar in der Kathedrale von Paris, wo der Erzbischof alle Tore öffnen und alle Leuchter anzünden ließ – man merkte nicht mal, daß ein zweifelhafter, abergläubischer Vikar das heilige Sakrament weggeschafft hatte – und auch bei der französischen Rundfunk– und Fernsehanstalt, wo der schöne Léo Béon, der starke Mann seit seiner Rolle in Sao Tomé (»man muß lernen, das Elend zu versorgen«) zum vorläufigen Volksverwalter aufgestiegen war. Alle diese Komitees huldigten der vielrassischen Gemeinde von Paris, die es noch nicht gab, aber deren Idee verkündet wurde. Die neue Funk- und Fernsehzentrale trat völlig in den Vordergrund. Man muß zugeben, mit einer gewissen Virtuosität. Die Wortmaschine lief rund. Und immer wurde wieder gewählt. Die Nachrichten gingen über das Direktorium ein, aber das Volk allein kommentierte.
Es fehlte nicht an Nachrichten. Man brauchte sie nicht erst zu suchen. Sie flossen ganz allein aus allen Ecken von Paris. Das motorisierte Paternoster der freiwilligen Nachrichter überschüttete das große Studio mit einer unkontrollierbaren Flut von Worten. Wahres. Falsches. Beides gleichzeitig. Am meisten Interpretiertes, Zugespieltes. Man nennt dies Erlebtes.
»Wo kommst Du her?« – »Von Notre-Dame.« – »War es pfundig?« »Sehr, sehr, sehr pfundig! Hervorragend! Tausende Kameraden. Aus allen Richtungen. Afrikanische Kameraden. Arabische Kameraden. Esther Bacouba. Sie hat improvisiert. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Aber es war fantastisch. Wartet mal … Jetzt habe ich es: ›Mein Bruder Christus‹ oder so ähnlich, ›steig von deinem Kreuz herunter und lebe mit uns, denn heute hörst du auf zu leiden!‹ Der Erzbischof weinte wie ein Kalb. Er hat die alte Esther umarmt … und so weiter!«
Kommentar des Volkes: »Aufgepaßt, daß die traditionelle Hierarchie nicht das religiöse Volksempfinden zurückerobert. Sie sind bösartig, diese Jungs! Seit zweitausend Jahren stecken sie das Volk in die Tasche und wachen bei ihrem Christus am Kreuz, dem Symbol der Entsagung. Warum sollte dies nicht so
Weitere Kostenlose Bücher