Das Heerlager der Heiligen
Dies ist auch eine Erklärung.
10.
Als erster ging der Mistkäfer an Bord. Als der steife Kopf der Totem-Mißgeburt sich wie ein aufgetauchtes Periskop einen Weg durch die Menge bahnte, schwieg diese. Das Schweigen dehnte sich wellenförmig vom Kai über das ganze Hafenviertel bis zu den entferntesten Straßen aus, wo neu Hinzukommende zu gewaltigen Rudeln anschwollen. Aus der Masse vor der Seitenfront des Schiffes ragten die Köpfe der Mißgeburt und des Mistkäfers heraus, und bald sah jeder das symbolische Paar langsam auf dem Fallreep hochsteigen. Für die in der Nähe Stehenden wie für die weiter Entfernteren, die nichts sehen konnten, aber von Mund zu Mund auf dem laufenden gehalten wurden, bekam der Aufstieg des Propheten göttliche Bedeutung, wie auch der göttliche Charakter des Unternehmens von niemandem bezweifelt wurde. Wohl aber begann Ballan am Wert seines Atheismus Zweifel zu hegen, als er den plötzlichen Lärm der Menge hörte.
Oben auf der Kommandobrücke der INDIA STAR hob der Mistkäfer beide Hände zum Himmel. Dann ergriff er seinen Sohn an beiden Stümpfen, die als Beine dienten, und schwang ihn wie ein Signal hoch. Jetzt glaubte jeder in der riesigen Menge, persönlich aufgerufen zu sein.
Ein Ansturm begann. Es war keine Schlacht, aber es gab Tote, ein belangloser Makel am Rand dieser Massenflut. Die mißgestalteten Kinder, die von Hand zu Hand weitergereicht wurden, gelangten ohne Schaden an Bord. Die engen Treppenenden der Fallreeps tauchten wie übervolle Wannen in das Wasser zwischen Schiff und Kai. Viele gelangten über das Pfahlwerk zu den ersten Eroberern des neuen Paradieses.
In der Masse der dicht gedrängten Körper, die auf einem der Fallreeps hochstiegen, versuchte Ballan unterzutauchen. Aber die Menschenflut war wie eine mit Scherben gespickte Mauer. Aus dieser ragten Arme heraus, geballte Fäuste, Krallen, offene Kinnladen. Ballan klammerte sich an Saris und umschlang Beine, die ihn schnell abschüttelten, um frei zu werden. Ein Faustschlag verschloß ihm ein Auge. Aus Kratzwunden im Gesicht floß ihm das Blut in den Mund. Er sprach nur noch vor sich hin: »Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«
Ballan starb rasch. Als er in das dunkle Wasser stürzte, überkam ihn die Liebe zum Abendland und die Reue. Aber diese letzte Gemütsaufwallung, bei der er sich völlig verleugnete, war ihm offenbar so peinlich, daß er freiwillig den Mund öffnete und gierig den Tod schlürfte.
11.
An diesem Tag und an den folgenden wurden in allen Häfen am Ganges hundert Schiffe auf die gleiche Weise und im Einvernehmen mit Kapitän und Mannschaft besetzt. Es genügte, daß der Mistkäfer auftrat und zur Menge sprach. Die Polizei berichtete dies von der Kommandobrücke zweier Schiffe gleichzeitig, was vermuten ließ, daß sie vom Taumel der Menge mitgerissen worden war.
In Wirklichkeit hatte die Menschenflut in dieser vom Wahn befallenen Stadt auf ihrem Weg jede Art Autorität zerstört. Ein Eliteregiment, das den Befehl erhalten hatte, den Zugang zum Hafen zu sperren, warf seine Waffen in den Ganges und mischte sich unter die Menge. Dieser Befehl ist übrigens die einzige Reaktion seitens der Regierung gewesen, die auch nur unter dem gemeinsamen Druck der europäischen Konsulate ausgelöst worden war. Im weiteren Verlauf versteckten sich die Minister in ihren weit entfernten Villen. Auch die Ressortleiter wurden unsichtbar, und bis zum Auftauchen der Flotte hüllten sich alle, die in der Regierung des Ganges irgendeine Verantwortung trugen, in Stillschweigen und glänzten durch Abwesenheit.
12.
Als später die Flotte ausgelaufen war und die Weltmeinung auf einmal von diesem Auszug und von den Umständen, die zum geführt hatten, erfuhr, gab es keine einzige Stimme, die seine Handlung gebilligt oder ihn verstanden hätte. Ohne Rücksicht auf den kleinen Mann, von dem am Ufer des Ganges nur ein Blutfleck übrig blieb, nachdem die Menge über seinen Körper getrampelt war, sprach man von dem »unüberlegten Streich des Konsuls Himmans«. Die Flotte und ihre Passagiere wurden als Tragik empfunden, der Konsul als lächerliche Figur betrachtet. Der einzige Leitartikler, der sich um Wahrheit bemühte, tat es mit einer Art traurigem Humor. Er überschrieb seinen Artikel mit »Das letzte Kanonenboot oder das Ende einer Politik« und schilderte die hauptsächlichsten bewaffneten Interventionen Europas bei den ehemals unterentwickelten Völkern bis zum allmählichen
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