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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Raspail
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Seewege der Welt kennst, so führe uns heute ins Paradies.‹
    Als das Schiff die offene See erreicht hatte, gefolgt von Tausenden von weiteren Schiffen, lief der kleine Gott der Christen auf seinen weißen, ungeschickten Beinen am Ufer entlang und rief: ›Und ich! Und; ich! Warum habt Ihr mich im Stich gelassen?‹ Buddha und Allah antworteten ihm durch ein Sprachrohr: ›Wenn Du Gottes Sohn bist, dann laufe über das Wasser und komme zu uns.‹ Mutig betrat der kleine Gott das Wasser. Als es ihm bis zum Mund und dann zu den Augen ging, ertrank er.
    Die Reise war lang und gefährlich. Viele starben unterwegs. Neue Menschen wurden geboren und ersetzten jene. Dann hörte die Sonne auf zu brennen. Die Luft wurde mild und schmeichelnd, als das Paradies im Westen auftauchte. Man sah Brunnen, aus denen Milch und Honig flossen, sah fischreiche Flüsse und Felder, die bis zum Horizont überreiche Ernten versprachen. Aber man entdeckte keine Menschen, was nicht verwunderlich schien, da der kleine Gott der Christen gestorben war. Nun tanzten die Mißgeburten und das Volk tanzte die ganze Nacht auf der Brücke der INDIA STAR. Wir waren angekommen.«
    Ein Heulen brach los, das einem einzigen Triumphschrei glich. Als Ballan aufblickte, sah er gerade noch auf dem glatten Gesicht der Totemfigur eine Art Fleischklappe, die wohl als Mund diente und sich jetzt schloß. Auf dieses offenbare Zeichen der Vorsehung hin setzte sich die Menge in Bewegung. Vielleicht ist dies eine Erklärung. Das erste Schiff, das besetzt wurde, hieß INDIA STAR.

9.
     

    Die INDIA STAR, die seit einem Jahr am Kai lag, war ein sechzig Jahre alter Postdampfer, ein Veteran unter den indischen Kästen dieser Art aus der englischen Zeit. Von seinen fünf senkrechten Kaminen in Röhrenform hatte er vier eingebüßt. Sie waren in unterschiedlichen Höhen durch Wetter, Rost, mangelnde Pflege und wohl auch durch Schicksalsschläge aufgerissen. So wie das Schiff jetzt aussah, schien es zu nichts mehr zu taugen, es sei denn in einer letzten verzweifelten Heldentat das Zeitliche zu segnen. Vielleicht war dies auch die Absicht des Kapitäns, der durch seine zerlumpte Mannschaft die aus verfaulten Brettern bestehenden, zum Kai führenden Fallreeps wieder herrichten ließ. Noch drei Tage zuvor waren sie hochgezogen worden, als die Menschenmenge sich gefährlich zusammenrottete.
    Die Anordnung des Kapitäns wäre dennoch unerklärlich gewesen, wenn sie ihm nicht vermutlich von irgend jemandem eingeredet worden wäre. Ballan war die Nacht zuvor an Bord gekommen. Er war dort nicht allein. Andere hatten die gleiche Idee gehabt. Es waren geheime Rädelsführer, die mit der Psyche der Masse vertraut waren. Ihre Namen hat man nie erfahren.
    »Und wie steht's mit der Rückkehr?« hatte der Kapitän gefragt. »Wenn das Schiff dazu noch fähig ist …«
    »Es gibt keine Rückkehr«, hat irgendeiner geantwortet.
    In diesem Augenblick kam Ballan. Sie erkannten sich, ohne sich zu kennen. Sie verstanden sich, ohne sich abzusprechen. Wie Eingeweihte. In was eingeweiht? Und wie?
    Selten werden spontane Massenbewegungen nicht mehr oder weniger manipuliert. Man könnte sich vorstellen, daß eine Art mächtiger Dirigent, ein führender Manipulator an tausend Fäden in allen Ländern der Welt zieht und dabei von genialen Solisten unterstützt wird. Aber das wäre falsch gedacht. In dieser Welt der geistigen Verwirrung handeln nur einige unter den Intelligentesten, Großzügigsten oder auch Bösartigsten spontan. Sie kämpfen auf ihre besondere Art gegen den Zweifel und entziehen sich den menschlichen Lebensbedingungen, deren jahrhundertaltes Gleichgewicht sie ablehnen. Ohne zu wissen, was die Zukunft bringt, rennen sie auf einer Flucht nach vorne mit und brechen auf ihrem Weg alle Brücken hinter sich ab. Vor allem geben sie das Denken auf. Jeder zieht an den Fäden, die mit dem eigenen Gehirn verbunden sind, und genau da liegt das Geheimnis unserer Zeit begraben. Alle diese Fäden laufen zusammen und bewirken ohne vorherige Abstimmung den gleichen Gedankenablauf. Die Welt scheint nicht einem bestimmten Dirigenten, sondern einem neuen apokalyptischen Tier unterworfen zu sein, einer Art anonymen, allgegenwärtigen Mißgeburt, die sich vordergründig der Zerstörung des Abendlandes verschworen hat. Nichts hält das Tier auf. Das weiß jeder, und es erzeugt bei den Eingeweihten ein Triumphgefühl, während die, welche noch dagegen ankämpfen, von der Nutzlosigkeit des Kampfes gepackt sind.

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