Das Heerlager der Heiligen
von dem völlig entnervten und zitternden Krieger endlich ausgeführt. Jetzt antwortete der Bischof:
»Gottes Hilfe? Hören Sie! Gott hilft ihnen, denn soeben geht das Unmögliche in Erfüllung. Jene fahren weg!«
Die Sirene der INDIA STAR heulte so traurig, daß ein abergläubischer Kapitän das Zittern bekommen hätte. Es hörte sich an, als ob ein taubstummer Riese sein defektes Stimmband quält. Zunächst waren es kurze Versuche, schrille, ernste, abgehackte, ungleichmäßige Töne. Dann endete das Ganze in einem ungeheuren Pfeifenkonzert, bei dem jeder Ton der Skala den nächsten überdeckte, ohne ihn ganz zum Verstummen zu bringen. Die Orgelpfeife der INDIA STAR, die vom Rost durchlöchert war, tat ihren letzten Dienst. Sie barst im gleichen Augenblick, als auf dem Fallreep die Totem-Mißgeburt den zahnlosen Mund schloß.
Auf der am Kai liegenden CALCUTTA STAR, einem verkommenen Stern einer verkommenen Stadt, gab der Kapitän dem Bootsmaat heftige Zeichen. Dieser war mit einem Pilgerrock bekleidet, hatte aber seine mit Tressen besetzte Mütze aufbehalten, was ihm das Aussehen einer Kasperlefigur gab. Zwei Fallreeps wurden hochgezogen. Am oberen Ende des dritten, an dessen Fuß der kleine Konsul und seine »Armee« stand, schien noch eine Ecke auf der Schiffsbrücke für die am Kai wartende Menge frei zu sein. Diese setzte sich jetzt langsam in Bewegung, wie ein riesiges Tier mit einer Million Tatzen und hundert aneinandergereihten Köpfen. Einer derselben, der schöne Kopf eines jungen begeisterten Mannes, dessen leuchtende Augen das ganze Gesicht überstrahlten, stieß mit der jämmerlichen Kanone der europäischen Artillerie zusammen.
»Feuer!« befahl der Konsul.
Dieses inhaltsschwere Wort hatte er noch nie gebraucht. Er sprach es zum ersten Mal aus und war darüber selbst verwundert. Im Augenblick des Todes entdeckte der kleine Konsul mit Entzücken das militärische Schauspiel. Feuer! Sehen Sie, Sire, eine weitere Kolonie liegt zu Ihren Füßen. Feuer! Die Kanaken ergeben sich und hissen die Flagge mit den drei Farben. Feuer! Der Sultan von Patacauet bittet um Schutz. Feuer und nochmals Feuer! An den Hinrichtungspfählen im Festungshof fallen die rebellischen Schweine, denn wir sind zwar stark und großzügig, aber … Feuer! Der Konsul wachte aus seinem Traum auf, weil kein Schuß fiel und die »Armee« zurückging.
»Auf was wartest Du denn, Du Schwachkopf!«
Die »Armee« desertierte, wie üblich, auf die feigste Art und Weise. Gott gibt uns eines Tages siegreiche Armeen, die angesichts des besiegten Feindes desertieren. Er wird sie uns sicher schenken, wenn er alle diese Jämmerlinge hört, die sich seines Namens bedienen. Der Sikh gab dem Konsul sein Gewehr und sprang in den Ganges.
»Sie werden trotzdem nicht schießen!« sagte der Bischof.
»Ich werde schießen und töten«, erwiderte der Konsul und hob entschlossen den Gewehrlauf bis in Höhe der Kuhaugen der Tiermenge.
»In wessen Namen?« fragte der Bischof.
Seit einigen Momenten richtete der Konsul seine Blicke auf die Augen des jungen dunkelhäutigen Mannes in Zielrichtung seines Gewehres. Das Drängen der Menge ließ kurz nach.
»Was glauben Sie wohl, was ich Ihnen antworten werde? Im Namen des Ruhms? Der Ehre? Aus Prinzip? Im Namen der christlichen Zivilisation? Im Namen von was weiß ich? Nichts von all dem. Ich werde diesen Blick auslöschen, weil mir dies gefällt. Ich erkenne keinen von diesen Tausenden von Marsbewohnern als Bruder an. Mit ihnen erkläre ich mich nicht solidarisch, und ein einziges Mal werde ich es beweisen.«
Er schoß. Mit einem blutenden Loch zwischen beiden Augen verschwand einer der hundert Tierköpfe, an dessen Stelle sofort ein anderer mit einem schwarzkarierten Gesicht und starken Kieferknochen trat und dessen haßerfüllter Blick sich auf den Konsul richtete. Sofort lag dieser zusammengeschlagen auf der Erde. Der Bischof beugte sich über den schmächtigen hingestreckten Körper.
»Im Namen Gottes vergebe ich Ihnen«, sagte der Bischof.
»Im Namen Gottes pfeife ich darauf«, antwortete der Konsul.
Jetzt drängten die hundert Köpfe nach vorne. Das in Bewegung geratene Tier machte sich auf den Stufen des Fallreeps dünn und kletterte auf seinen Tausenden von Tatzen zur Brücke der CALCUTTA STAR hoch. Der Bischof wurde von der Menschenflut davongetragen und schließlich zur Schiffsbrücke hochgespült. Er war noch am Leben, aber matt wie ein Schiffbrüchiger, der auf dem Sand einer unbekannten Insel
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